Hamburger SV:Der Aufstieg wird zweitrangig

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Wollte nicht den neuen Hamburger Weg, der ganz auf Talente setzt, mitgehen: Dieter Hecking. (Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Nach der Trennung von Trainer Dieter Hecking richtet sich der HSV neu aus. Gesucht wird nun ein Kandidat, der dem Klub die Ungeduld austreibt.

Von Jörg Marwedel, Hamburg

Von den 15 Trainern, die der Hamburger SV in den vergangenen zehn Jahren entließ, hat wohl keiner nach so offenen und ehrlichen Gesprächen aufgehört wie Dieter Hecking. Es sei sozusagen eine gemeinsame Entscheidung gewesen, sagte Sportvorstand Jonas Boldt. Davon abgesehen war es ohnehin keine Entlassung, weil Heckings Vertrag nur automatisch weitergelaufen wäre, wenn der HSV mit seiner Hilfe die zweite Fußball-Bundesliga wieder nach oben verlassen hätte. Die Tatsache, dass die Klubspitze überhaupt eine Vertragsverlängerung in Erwägung zog, obwohl der Coach das erklärte Ziel Bundesliga-Rückkehr brachial verfehlte nach einem 1:5 gegen den Provinzklub Sandhausen, ließ das Hamburger Abendblatt schon von einer neuen Zeit träumen, welche das Blatt "Anti-HSV-Weg" nannte.

Doch am Ende kam es wie immer. Der Traditionsklub wird auch in die kommende Saison mit einem neuen Trainer gehen. Ob Hecking dem HSV absagte oder Boldt zu dem Schluss kam, der Trainer sei nicht mehr der Richtige für die Zukunft, ist letztlich egal. Bei der Analyse, weshalb es der einstige Bundesliga-Dino auch im zweiten Anlauf nicht schaffte, in die erste Liga zurückzukehren, ging es auch um Heckings Anteil am Schaden. Zum Beispiel darum, weshalb das Team nach der Corona-Pause nur zehn Punkte in neun Spielen gewonnen hat. Oder auch um den einen oder anderen taktischen Missgriff.

Besonders Heckings Fähigkeiten als Spieler-Entwickler wurden - wie schon bei seinem vorigen Job in Mönchengladbach - in Frage gestellt. Während in der Hinrunde Profis wie Sonny Kittel, Bakery Jatta, Adrian Fein, Rick van Drongelen oder Lukas Hinterseer durchaus Bundesliga-Niveau erreichten, gelang ihnen dies zuletzt immer seltener. Das vom FC Arsenal für 2,5 Millionen Euro erworbene Flügeltalent Xavier Amaechi, 19, ein englischer U19-Nationalspieler, kam nur für 32 Minuten zum Einsatz. Und Louis Schaub, der ein Jahr zuvor noch einen erheblichen Anteil am Wiederaufstieg des 1. FC Köln hatte, verlor nach gutem Beginn völlig den Anschluss.

Vor allem aber bei der nun beschlossenen neuen Ausrichtung des HSV, der auch aus finanziellen Gründen im Wesentlichen nur noch mit Talenten arbeiten will (der Etat soll von 30 auf 23 Millionen Euro pro Jahr verringert werden), ist Hecking wohl der falsche Mann. Und er konnte sich mit diesem Weg auch nicht anfreunden. Seine Schlussfolgerung des Scheiterns war etwa das Fehlen von Führungsspielern. Aber solche Qualitäten traut er jungen Profis offenbar kaum zu. Dabei haben die auf seinen Wunsch verpflichteten Routiniers Ewerton, 31, und Martin Harnik, 33, dem Team in etwa so viel helfen können wie ein pensionierter Jockey, der ohne Training vertretungsweise noch einmal einspringt.

Zwar stabilisierte Hecking mit seiner Erfahrung und Ruhe den meist aufgeregten HSV zunächst. Doch je mehr es in die entscheidende Phase ging, desto mehr schienen ihm die Ideen zu fehlen. Und es taten sich auch Widersprüche auf. Hatte er nach den ersten Gegentoren in letzter Sekunde, die den HSV die Punkte zum Aufstieg kosteten, selbst davon gesprochen, das sei wohl eine Sache für den Psychologen, wollte er danach nichts mehr von diesem Satz wissen und sprach davon, man habe einfach schlecht verteidigt. Während beim 55-jährigen Trainer von Psychologen-Hilfe nicht mehr die Rede war, kann sich Boldt, 38, einen Mentalcoach gut im Team vorstellen.

Heckings Nachfolge zeichnet sich schon ab. Der frühere HSV-Profi Dimitrios Grammozis (1998 bis 2000), der in der vergangenen Saison Darmstadt 98 auf Rang fünf führte und seinen Vertrag dort nicht verlängerte, ist der erste Kandidat. Allerdings ist an dem in Wuppertal geborenen Deutsch-Griechen auch der Lokalrivale FC St. Pauli interessiert. Grammozis, 42, der vom Hamburger Thies Bliemeister beraten wird, favorisiert eine offensive Spielweise mit stabiler Defensive. Man sagt ihm nach, ein konsequenter Typ mit Empathie zu sein. "Das Menschliche steht bei mir an erster Stelle", sagte er kürzlich. Und dass man Geduld haben und an seine Philosophie glauben müsse. Dazu benötige man Ruhe und Gelassenheit.

Genau diese Eigenschaften sucht der HSV weiterhin, zumal Boldt dem Klub anscheinend wirklich jene Ungeduld austreiben will, für die er berühmt war. Der HSV soll künftig ein Unternehmen werden, das die Entwicklung von Spielern noch höher einschätzt als den sofortigen Wiederaufstieg.

© SZ vom 06.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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