Süddeutsche Zeitung

Auftakt in der 2. Liga:Huckepack und Purzelbaum

Lesezeit: 4 min

Der Hamburger SV zieht Konsequenzen aus dem dritten Nichtaufstieg in Serie. Runderneuert geht es in die Zweitligasaison - mit einem neuen Trainer, der als unbequemer Reformer gilt.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Unsere Welt ist im Groben entschlüsselt und entzaubert, aber so mancher Fußballklub wirft weiterhin große Rätsel auf. Hierzulande sorgt vor allem der Hamburger SV für Kopfzerbrechen, weil sich niemand so recht erklären kann, was diesen Traditionsverein eigentlich daran hindert, seine naturgegebenen Potenziale auszuschöpfen und der hanseatischen Millionenmetropole als Repräsentant in der Erstklassigkeit zu dienen.

Zuletzt verdichteten sich jedoch einige Indizien zu einem schlüssigen Gesamtbild, wie unter einigen Fans und Beobachtern geunkt wurde. "Irre HSV-Prämien im Aufstiegsfall enthüllt!", lautete etwa eine Schlagzeile, noch bevor die Hamburger in der vergangenen Spielzeit ihren dritten Nichtaufstieg in Serie perfekt gemacht hatten. Die Berichte legten dar, dass dem HSV ein erfolgreicher Saisonabschluss teuer zu stehen gekommen wäre, weil eine beträchtliche Anzahl an Leuten daran kräftig mitverdient hätte - am meisten offenbar der Ex-Manager Ralf Becker, der Hamburg bereits vor zwei Jahren verlassen hat und inzwischen beim Ligakonkurrenten Dynamo Dresden arbeitet.

Natürlich wäre es blanker Unsinn, das wiederholte Scheitern mit Missgunst gegenüber früheren Angestellten oder betriebswirtschaftlichen Erwägungen zu erklären, zumal bei einer Rückkehr in die erste Liga opulente Geldtöpfe angezapft werden könnten. Andererseits: Alle in der Vergangenheit aufgestellten Erklärungsansätze haben dem HSV seine Versagenskultur ja auch nicht austreiben können.

So gesehen haben die Spieltagsplaner dem FC Schalke 04 womöglich einen Gefallen getan, als sie zum Zweitliga-Start an diesem Freitag (20.30 Uhr) gleich mal das Duell mit dem HSV ansetzten. Königsblau begegnet zur Begrüßung somit einer Art Infobroschüre darüber, wie mühevoll das Leben im Unterhaus werden kann, wie schwer eine ruhmvolle Vergangenheit manchmal auf der trüben Gegenwart lastet - und vor allem, was für Hindernisse auf dem Weg zurück überwunden werden müssen.

HSV-Sportvorstand Boldt will eine neue Hierarchie im Team

In Hamburg hätten sie jedenfalls gerne darauf verzichtet, den alten Rekord des KSV Hessen Kassel einzustellen, der bereits in den Achtzigerjahren das zweifelhafte Kunststück vollbrachte, drei Jahre in Serie als Viertplatzierter ins Ziel zu gehen und so auf denkbar knappe Weise den Aufstieg zu verpassen. Beim HSV wurden deshalb, wie üblich, die ersten Sommermonate mit einer schonungslosen Analyse zugebracht, aus der anschließend radikale Änderungen resultierten. Als Hauptfaktor für den kontinuierlichen Misserfolg wurden mangelnder Arbeitsethos und fehlende Nervenstärke beim kickenden Personal ausgemacht, weshalb der Hamburger Sportvorstand Jonas Boldt, 39, im ersten Schritt einen Kehraus im Kader vorangetrieben hat. Mit etlichen Spielern hat er die Verträge aufgelöst, darunter im Unterhalt teure und sportlich enttäuschende Akteure wie Verteidiger Gideon Jung oder Torwart Sven Ulreich.

Der zweite Schritt sah vor, die Hierarchie komplett auf links zu drehen.

Für dieses Ansinnen hat Boldt einen neuen Trainer verpflichtet, Tim Walter, den man als Querdenker bezeichnen könnte, wenn dieser Begriff mittlerweile nicht so negativ behaftet wäre. Walter, 45, ist ein unbequemer Reformer, der hinter den Kulissen auch mal auf Konfrontation geht und in taktischen Belangen als Ideologe gilt, weil ihm der Ruf vorauseilt, dass er keinen Millimeter von seinem avisierten Ballbesitzfußball abrückt - und der in seinen ersten Wochen gleich zu ungewöhnlichen Maßnahmen gegriffen hat, um frischen Wind in den schläfrigen Traditionsverein zu bringen. Im Hamburger Volkspark wurden zuletzt täglich Fußballer gesichtet, die nach einem Zuspätkommen im Spalierlauf das Trainingsgelände betreten, die Purzelbäume machen, sich im Huckepack durch die Gegend tragen oder nach Trainingsspielniederlagen sogar das von Dorfplätzen bekannte "Arschbolzen" praktizieren.

"Er verkörpert genau das, was wir brauchen", sagte Boldt im Rahmen der Saisoneröffnung am vergangenen Samstag, bei der die Hamburger vor 4000 Zuschauern mit 1:0 gegen den FC Basel gewonnen haben. Andersrum war Boldt aber auch bestrebt, dem neuen Coach Walter einen Kader zur Verfügung zu stellen, den dieser für sein komplexes Passfeuerwerk benötigt. Als die wohl spannendsten Zugänge gelten der quirlige Mittelfeldmann Ludovit Reis, 21, der in der vergangenen Saison nach Osnabrück ausgeliehen war und jetzt auf fester Basis vom FC Barcelona an die Elbe wechselte, sowie der Verteidiger Sebastian Schonlau, 26.

Wie Reis wurde Schonlau ablösefrei verpflichtet, was sich noch als wahrhaftiger Glücksgriff erweisen könnte: In der Saisonvorbereitung stach er bereits mit kaiserlichen Bewegungen und ausgezeichnetem Stellungsspiel hervor, Walter überreichte ihm umgehend die Kapitänsbinde. Das komme keiner Degradierung des bisherigen Kapitäns Tim Leibold gleich, betonte der Trainer, vielmehr gelte es, beim HSV die Last künftig auf mehreren Schultern zu verteilen.

Der Weggang von Stürmer Simon Terodde soll über das Kollektiv aufgefangen werden

Womit man schon beim nächsten Prinzip wäre, das unter Walter umgesetzt werden soll. In der Vergangenheit sei die Abhängigkeit von Einzelnen zu groß gewesen, lautete ein Ergebnis der großen HSV-Versagensanalyse. Deshalb muss auch der zum FC Schalke abgewanderte Stürmer Simon Terodde, der in der vergangenen Saison mehr Tore erzielt hat als der Rest der HSV-Startelf, über das Kollektiv ersetzt werden. Für den Angriff kamen immerhin Robert Glatzel (Cardiff City) und der junge Mikkel Kaufmann (FC Kopenhagen), durchaus verheißungsvolle Namen, aber insbesondere von unbeständigen Einzelkönnern wie Spielmacher Sonny Kittel wird nun erwartet, dass sie sich jetzt dauerhaft in den Vordergrund spielen.

Wohin der Umbruch diesmal führen wird? Sportchef Boldt kann sich jedenfalls "keine reizvollere Aufgabe als den HSV vorstellen, weil sie so komplex ist", wie er kürzlich dem Kicker verriet . Als gutes Omen könnte sich erweisen, dass eine neuerliche Meldung eher geringes Aufsehen erregte. "HSV in peinliche Trikot-Panne verwickelt!", lautete die Schlagzeile eines Beitrags, der allerdings den Tatbestand des Clickbaitings erfüllte. Richtig ist, dass der HSV bis voraussichtlich zum fünften Spieltag auf seine Auswärtstrikots verzichten muss, weil diese versehentlich mit dem falschen Sponsor beflockt wurden.

Schuld an dem Malheur waren aber nicht die üblichen Verdächtigen wie Spieler, Trainer oder Funktionäre, sondern ein Sportartikelhersteller aus Herzogenaurach.

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