Süddeutsche Zeitung

BVB-Stürmer Haaland:Der Akrobatikkünstler lauert auf die Bayern

Pünktlich zum Topspiel am Samstag ist Dortmunds gefährlichste Waffe zurück: Erling Haaland schießt Tore mit solcher Finesse und Selbstverständlichkeit, dass die Münchner sich Sorgen machen müssen.

Von Thomas Hürner, Wolfsburg

Die Öffentlichkeit muss sich in dieser Hinsicht wenig vorwerfen lassen. Mit Nachdruck haben Klubverantwortliche, Mitspieler, Gegenspieler, Medienvertreter und Fans versucht, eine schlüssige Erklärung für die Frühreife dieses jungen Mannes zu finden, in langen Interviewschleifen und mindestens genauso langen Fußballphilosophen-Stammtischen am Tresen. Es wurden historische Vergleiche durchexerziert und Thesen geprüft, es wurde debattiert, gestikuliert und hinterher bei einem Versöhnungsbierchen auf die eigene Ratlosigkeit angestoßen.

Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach: Für diesen Stürmer namens Erling Braut Haaland, gerade mal 21 Jahre alt, gibt es in der Vergangenheit nun mal keine geeignete Referenzgröße, an der man ihn messen könnte - und eigentlich ist das auch piepegal, weil inzwischen ein breiter Konsens darüber herrscht, dass die Klasse der norwegischen Naturgewalt allenfalls mit einer Variation an Superlativen beschrieben werden kann.

"Erling gibt uns Energie", sagte BVB-Trainer Marco Rose nach der Partie

Am Samstag, nach Dortmunds 3:1 in Wolfsburg, waren sich jedenfalls mal wieder alle einig, die ein Mikrofon vor die Nase gehalten bekamen. Kurzfassung: Der BVB verfügt in Haaland über eine "Attraktion der Liga" (VfL-Trainer Florian Kohfeldt) beziehungsweise über einen "Unterschiedsspieler" (Dortmund-Coach Marco Rose), der auch nach wochenlanger Verletzungspause eine "Waffe" (Julian Brandt) bleibt. "Probleme am Hüftbeuger", so die Diagnose, hatten den Stürmer zuletzt außer Gefecht gesetzt. Moment mal: die Hüfte?

Haaland, eingewechselt in der 72. Minute, wirkte bei seiner Rückkehr in den Spielbetrieb so beweglich, als habe er die Zeit ausschließlich mit Aerobic-Kursen und Dehnübungen überbrückt. Der Stürmer lauerte auf eine Brandt-Flanke im Strafraum, er machte eine gewaltigen Satz nach oben, er sprang dem Ball mit einer Beinschere entgegen und traf mit der linken Fußspitze zum 3:1-Endstand (81.). "Erling gibt uns Energie", lautete die Kurzanalyse Roses hinterher, und dieser Umstand war natürlich in mehrfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung für den BVB.

Die Mängelliste bei den Dortmundern war groß in dieser Saison

Zum einen fiel das Tor mitten in eine Phase hinein, in der die Wolfsburger dem Ausgleich deutlich näher waren als die Dortmunder der Vorentscheidung - und was hätte ein weiterer Rückschlag wohl für emotionale Krater in den Gemütern der schwarz-gelben Delegation hinterlassen, nur wenige Tage nach den Ereignissen vom Mittwoch, dem ersten Vorrunden-Aus in der Champions League seit Langem für den BVB? Fußballerische Stagnation war anschließend diagnostiziert worden, ebenso ein verhängnisvoller Hang zu Inkonsequenz und Leichtsinn, dazu eine mangelhafte Gruppentaktik vor allem in der Defensive.

Der sehr allgemein intonierte Tadel stand noch unter dem frischen Eindruck der Schmach in der kontinentalen Meisterklasse, aber auf eines konnten sich zuletzt fast alle Beobachter einigen: Die Dortmunder wirken in dieser Bundesliga-Saison wie ein einarmiger Bandit, der zwar regelmäßig Siege ausspuckt - doch irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass eine kleine Pechserie bereits ausreichen würde, um das Gesamtgebilde ins Wanken zu bringen.

Sinnbildlich dafür standen am Samstag die sehr unterschiedlichen Interpretationen der Trainer Rose und Kohfeldt, die einst gemeinsam ihren Fußballlehrer-Lehrgang absolvierten und seither Kumpels sind. Der eine, Rose, hatte einen "verdienten Sieg" seines BVB gesehen, in dem seine Spieler eine der fußballerisch "besten Saisonleistungen" gezeigt und in bestimmten Bereichen sogar "neue Benchmarks" gesetzt hätten. Der andere, Kohfeldt, fand die Niederlage hingegen "unglücklich" und hatte "über das Spiel gesehen definitiv mehr Chancen" beim VfL gesehen.

Vor dem Spitzenspiel gegen den FC Bayern gibt sich Haaland betont entspannt

In der Tat handelte es sich um eine Partie, in der zwei nahezu gleichwertige Mannschaften wechselseitig das Kommando übernahmen. Die frühe Wolfsburger Führung durch Stürmer Wout Weghorst (2.) und das daraus resultierende Selbstvertrauen gingen fließend über in eine nicht nur optische Dominanz des BVB, der durch einen verwandelten Foulelfmeter von Emre Can (35.) und einen sehenswerten Treffer von Donyell Malen (53.) die Wende herbeiführte.

Und als der Sieg in der Folge auf der Kippe stand, konnte Rose eben Stürmer Haaland ins Spiel bringen, der mit seinem akrobatischen Treffer unter den mitgereisten BVB-Anhängern kollektive Eruptionen auslöste. Sie sangen nach dem Schlusspfiff inbrünstig, dass sie den Bayern die Lederhosen auszuziehen gedenken - mit Sicherheit am liebsten gleich in der nächsten Woche, wenn es zum direkten Duell der beiden Rivalen kommt. "Wir wollen das als Spitzenspiel angehen", sagte BVB-Coach Rose, was angesichts nur einem Punkt Rückstand auf den Tabellenführer aus München allerdings ein Obligatorium sein dürfte.

Teil der psychologischen Kriegsführung ist von jetzt an auch demonstrative Gelassenheit, Haaland scheint das bereits verinnerlicht zu haben. Während seines Torjubels in Wolfsburg bekam er von einer wenig begeisterten VfL-Anhängerin im Publikum den Mittelfinger gezeigt, das Video dieser Szene wurde bereits zum Internet-Hit. Der Norweger reagierte darauf wie ein alter Hase, seine Antwort kam locker aus der - Obacht, Wortspiel - Hüfte geschossen. "Das ist es doch, warum wir Fußball lieben", antwortete Haaland via Twitter. Eine Schlusspointe, die sicher auch in München registriert wurde.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5475203
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/bek
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.