Günter Netzer weint. Der 80-Jährige sitzt im Souterrain des Deutschen Fußballmuseums, bloß ein paar Meter entfernt von der Hektik des Dortmunder Hauptbahnhofs. In der gedämpften, dunklen Arena im Untergeschoss des Museums stehen mehrere Hundert Menschen, teils allernamhafteste Vertreter des deutschen Fußballs, aber es ist absolut still, als Netzer mit brüchiger Stimme in ein Mikrofon sagt: „Ich bin erschlagen. Mein ganzes Leben in 25 Minuten – das hat mich tief berührt.“
25 Minuten hatte zuvor die hochemotionale, wenn nicht sogar zutiefst pathetische Multimediashow auf zwei 20 Meter langen, riesigen Leinwänden zu beiden Längsseiten des gewaltigen Raums gedauert: Netzer beim Fußballspielen, Netzer in Fernsehshows, im Ferrari, beim Friseur – dazu elegische Musik, aber auch immer wieder skurrile Schwarzweißschnipsel und knallbunte 70er-Jahre-Optik, mitunter eingebettet in deutsche Historie und Weltgeschichte. Kein Wunder, dass Netzer hinterher gerührt war. Dieses Meisterwerk der Schnitttechnik feiert ihn als Popstar und Superman – und für die Fußballwelt war er ja wirklich eine Art Superheld. Sein langjähriger Mönchengladbacher Weggefährte Rainer Bonhof sagte am Montagabend bei der Ausstellungseröffnung fast doppeldeutig: „Günter hat die Welt des Fußballs gedreht.“

WM-2006-Prozess:Günter Netzer wechselt sich selbst aus
Nächste Volte im Prozess um Franz Beckenbauers WM-Millionen: Günter Netzer will weder persönlich noch per Video vor Gericht aussagen - obwohl er als einer der wichtigsten Zeugen gilt. Die Verweigerung könnte ein Nachspiel haben.
Erstmals widmet das von einer Stiftung des Deutschen Fußball-Bunds betriebene Deutsche Fußballmuseum, vor zehn Jahren eröffnet, einem einzelnen Fußballer eine Sonderausstellung. Wobei der Begriff Ausstellung hier relativ ist. Der Museumsdirektor Manuel Neukirchner feiert die bis Oktober zu sehende Show als „immersives Erlebnis“ – als eine Art Tauchgang durch eine virtuelle Welt. „Das geht tief“, sagt selbst Netzer ergriffen.
Tatsächliche Exponate sind bloß sechs zu sehen: drei Netzer-Trikots (Gladbach, Real Madrid, Nationalmannschaft), zwei Paar Schuhe und der Endspiel-Ball vom EM-Titel 1972. Die Exponate sind in sechs riesige Glaskugeln gefasst, die während der Multimediavorführung einzeln und passend zur jeweiligen Karrierephase Netzers langsam von der Decke heruntergefahren werden. Die mehrdimensionale Installation ist von solch ereignisreicher Dichte, dass sie schlüssig auch nur mit dieser ultimativen Netzer-Aussage aus dem Off enden kann: „Ich fühle mich privilegiert, dieses Leben gelebt zu haben.“
80 Jahre Leben binnen 25 Minuten Film funktionieren auch deshalb so gut, weil Neukirchner tagelange Recherchegespräche mit Netzer geführt hat. Diese Gespräche haben auch ein die Ausstellung begleitendes Buch („Netzer“, Werkstatt-Verlag, 272 Seiten, 39,90 Euro) hervorgebracht. Netzers latenten Sarkasmus, berichtet Neukirchner, habe er freilich erst mal erkennen und verstehen müssen. Er habe Netzer scherzhaft vorgeschlagen, bei jeder ironischen Aussage doch bitte den linken Arm zu heben. Netzer sagt über die Gespräche mit Neukirchner: „Ich hatte eigentlich ständig den linken Arm oben.“ Neukirchner verantwortet auch die künstlerische Gesamtleitung dieser Ausstellung, realisiert wurde die Multimediashow von der Kölner Agentur des früheren Sky- und RTL-Sportmoderators Simon Südel.
Paul Breitner sagt: „Die zwei Jahre mit Günter in Madrid waren für meine Frau Hilde und mich die schönsten in unserem Leben.“
Der Film war am Montagabend das eine Überwältigende für Netzer, die Zahl der anwesenden Wegbegleiter das andere, darunter Horst Hrubesch, Harald Schumacher, Klaus Fischer, Manfred Kaltz und Jimmy Hartwig. Paul Breitner berichtete von gemeinsamen Jahren bei Real und sagte tatsächlich: „Diese zwei Jahre mit Günter in Madrid waren für meine Frau Hilde und mich die schönsten in unserem Leben.“ Und der DFB-Präsident Bernd Neuendorf berichtete, wie er als Kind auf dem Bolzplatz am liebsten den gestenreichen Netzer imitierte – und nicht nur dort: „Günter Netzer war Popstar, cool und aufmüpfig – das hat mir gefallen.“
„Vielleicht“, sagte Netzer ganz am Ende der Ausstellungseröffnung in dem ihm so eigenen lakonischen Tonfall, „vielleicht findet hier ja aber auch ein bisschen eine Verklärung der Vergangenheit statt.“ 25 komprimierte Minuten als emotionaler Actionfilm eines ganzen Lebens verführen tatsächlich zur Verklärung. Die Gäste bei der Ausstellungseröffnung aber verstärkten diesen Eindruck. „Ich bin dankbar, Dich als Mensch kennengelernt haben zu dürfen“, sagte etwa Bonhof zu Netzer und musste da selbst fast weinen.
Gegenüber dem echten endlichen Leben hat die Dortmunder Multimediashow einen markanten Vorteil: Sobald der 25-minütige Film zu Ende ist, läuft in den Ecken der Riesenleinwände ein fünfminütiger Countdown herunter: „Die nächste Show beginnt in 4:59 Minuten.“ Bis zum 8. Oktober läuft „Netzer“ täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr in Dauerschleife. Das spektakuläre Leben von Günter Netzer wird sich in Dortmund im kommenden halben Jahr in seiner komprimierten Form also noch ungefähr 2500 Mal ereignen.