War das wirklich Ilkay Gündogan, der dort unten vor dem Mikrofon stand? Einiges sprach dafür, zum Beispiel, dass der Interviewte diesem Gündogan bemerkenswert ähnlich sah, auch Tonfall und Stimmfarbe waren so nahezu identisch, dass ein Imitator bestimmt jahrelang üben müsste. Und welcher Imitator sollte jahrelang üben, um ausgerechnet Ilkay Gündogan nachahmen zu können?
Es war also wohl doch Ilkay Gündogan, der da im September nach einem DFB-Länderspiel gegen die Schweiz seine Aussage machte. Aber was für eine Aussage war das: "Ich bin angepisst. Das geht mir auf den Sack", grantelte Gündogan nach einem Spiel, das 1:1 endete, nach Ansicht des Schimpfenden aber eher 2:0 oder 3:0 für Deutschland hätte enden müssen. "Das beim Gegentor darf nicht passieren auf dem Niveau", brummte Gündogan weiter, "wir hätten es eiskalt durchspielen müssen. Ich weiß nicht, ob es eine Qualitätsfrage ist, aber daran müssen wir arbeiten."
Gündogan weiß schon, was er tut
Ilkay Gündogan spricht normalerweise eher so, wie er auch Fußball spielt: smart und kultiviert, auf versierte Weise unauffällig. Angepisst und auf den Sack? Nicht sein Wortschatz eigentlich, zumindest nicht der, den er vor den Kameras pflegt.
Aber Gündogan weiß schon, was er tut, und an diesem Abend wusste er: Es gab keinen Grund, sich zurückzuhalten. Er hatte gut gespielt und das einzige Tor erzielt, er war, wie das auf Fußballdeutsch heißt, ein Führungsspieler. Und laut Fußballdeutsch ist es auch vorgesehen, dass Führungsspieler manchmal kraftvolle Sachen sagen.
Nations League:Löw und sein plötzlicher Reichtum
Gegen die Ukraine überzeugt Leon Goretzka so sehr, dass Bundestrainer vor einem Luxusproblem steht. Er hat zu viele gute Spieler für die Mittelfeldzentrale.
Im Grunde war dieses kleine Interview eine Nachricht, sie lautete: Gündogan darf das jetzt. Er hat sich in der Nationalmannschaft inzwischen eine Stellung erspielt, die ihn berechtigt, angepisst zu sein.
Zum Nations-League-Spiel nach Spanien an diesem Dienstag ist Gündogan als Leistungsträger vom Manchester City des großen Pep Guardiola angereist, und er ist auf dem besten Wege, das jetzt auch bei der anderen Mannschaft zu werden, für die er spielt: bei der deutschen Nationalmannschaft. Wer Gündogans Geschichte beim DFB verfolgt hat, wird das nicht für selbstverständlich halten: Jahrelang war er zu oft verletzt, um ein etablierter Nationalspieler sein zu können, Weltmeister wurden die Kollegen ohne ihn, auf seiner Position stieg Toni Kroos zum Welt- und Filmstar auf. Und wenn Gündogan es mal zu einem Turnier schaffte, dann schied Deutschland entweder auf groteske Weise im Halbfinale (2012) oder auf blamable Weise in der Vorrunde aus (2018). Wobei man nichts davon Gündogan zur Last legen sollte: 2012 spielte er gar nicht, 2018 nur eine Halbzeit - da war er ohnehin umstritten, nachdem er zuvor mit Mesut Özil und dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan im Bild gestanden hatte.
Ilkay Gündogan ist gerade 30 geworden, und in diesem doch schon reifen Fußballalter hat er sich in Jogi Löws Elf immerhin einen interessanten Status erworben: Er ist jetzt Stammspieler ohne Stammplatz. Vor einem Jahr hat er in einem SZ-Interview noch vorsichtig darauf hingewiesen, dass er sich in Deutschland "ein wenig unterschätzt" fühle, aber angesichts der Konkurrenten Toni Kroos und Joshua Kimmich hatte er auch Verständnis dafür geäußert, dass ihn der Bundestrainer in seiner Elf oft nur als zwölften Mann besetzte.
Ein Jahr später hat sich Gündogans Situation auf kuriose Weise geändert, günstig oder ungünstig für ihn, wie man's nimmt: Er ist jetzt unumstritten und wird von keinem mehr unterschätzt (günstig); gleichzeitig ist zu den Konkurrenten Kroos und Kimmich noch der Konkurrent Leon Goretzka gestoßen, der sich in unwiderstehlicher Form befindet (ungünstig). Gündogan ist jetzt also viel näher dran an Löws erster Elf und gleichzeitig weiter weg.
Fürs Spiel in Spanien wird nun eine reizvolle Aufstellung erwartet: Toni Kroos, gegen die Ukraine gesperrt, wird ins Team zurückkehren und es sich im hinteren Mittelfeld an Gündogans Seite bequem machen; der unwiderstehliche Goretzka dürfte etwas weiter vorn Position beziehen. Vermutlich werden für einen Abend also zwei Weltstars gemeinsame Sache machen, die tendenziell in Konkurrenz zueinander stehen.
Gündogan und Kroos verfügen über ein ähnliches Profil, beide sind große Beschützer, denen die Kollegen in höchster Bedrängnis den Ball rüberschieben, weil sie wissen: Beim Toni und beim Ilkay hat der Ball eine gute Zeit. Beide garantieren Ballsicherheit und Dominanz, beide spielen lieber den vorletzten als den letzten Pass, beide sind keine Rückwärtssprinter, beide liefern keine Szenen für den Jahresrückblick.
Ballsicherheit kann man nie genug haben
Wobei man die schönsten Szenen des Jahres wahrscheinlich nur weit genug zurückspulen müsste, um zu entdecken, dass Kroos oder Gündogan doch ihre Füße im Spiel hatten. Beide sind Influencer. Sie können einen Spielverlauf mit einer unauffälligen Spielverlagerung überreden, sich in eine schönere Richtung zu entwickeln.
Im Grunde spricht nichts dagegen, zwei Spieler dieses Zuschnitts gemeinsam auf den Platz zu schicken, Ballsicherheit kann man nie genug haben. Auch Löw kann sich das vorstellen, sein Problem ist nur, dass er auf dieser Position eine niederträchtig große Auswahl hat. Je nach Spielsystem hat er im Zentrum drei oder auch nur zwei Planstellen zu vergeben, und da die Münchner Kimmich und Goretzka blendend harmonieren und sich in ihren Fähigkeiten komplementär ergänzen, könnte es auf ein Duell Kroos/Gündogan hinauslaufen. Mit Vorteilen für Kroos, was Reputation und Hierarchie anbelangt; mit Vorteilen für Gündogan, was die aktuelle Entwicklung betrifft. Zwar hat Gündogan zuletzt sehr farbig über die direkten Folgen seiner Corona-Erkrankung im Oktober erzählt ("mir ging es die ersten drei, vier Tage richtig schlecht, ich konnte mich kaum bewegen"), aber nach ein paar müden Trainingstagen ist er verblüffend schnell in Form gekommen.
Joachim Löw hat keine Eile, bis Mai kann er noch die Formkurven der Kandidaten sowie die Intaktheit ihrer Bänder und Knochen studieren. Er müsse das alles "zum Glück noch nicht jetzt entscheiden", sagte Löw am Wochenende mit der Gelassenheit eines Mannes, der überhaupt keinen Grund hat, angepisst zu sein.