Grünwalder Stadion:Mythos für Generationen

Das Grünwalder Stadion fasziniert seine Anhänger vor allem deshalb, weil es viel über die Historie des TSV 1860 erzählt.

Von Hans Eiberle

Zeitgenossen, die nicht vom "Einmal-Löwe-immer-Löwe-Virus" infiziert sind, bleibt nur Kopfschütteln. Ist ein Ort denkbar, an dem den Sechzigern mehr Schmach widerfahren ist, als im Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße? Wo sich, nach einem Jahr der Katastrophen mit Abstieg, Pleite und Lizenzentzug, vor gut 20 Jahren in den Niederungen der Bayernliga nur noch die Treuesten der Treuen um die gedemütigte Mannschaft scharte. Und bald alle Hoffnung auf schnelle Erlösung aus der Verdammnis fahren ließen: Sechster Platz, hinter dem Lokalrivalen Wacker.

Aber die Trutzburg in Giesing, ein baufälliges Relikt, umwabern längst die für die Entstehung eines Mythos' typischen verschwommenen irrationalen Vorstellungen. Typisch dafür die von den Löwen in Wembley. Wem schon ist erinnerlich, dass sie damals das Finale im Europacup der Pokalsieger 0:2 verloren haben? Den Weg bereitet hat 1860 allerdings tatsächlich auch im Giesinger Stadion. Vielleicht war es schon die Großväter-Generation, die dem Mythos ewiges Leben einhauchte.

Aus der Bayernliga in die Bundesliga

Als sie die Hälse reckte, wenn der Auernhammer Hanse, König der Stehhalle auf der Westseite, zum Flankenlauf ansetzte. Und mit den Sechzigern zum süddeutschen Meistertitel und in die Bundesliga stürmte. Oder später, als Rudi Brunnenmeier es fünfmal krachen ließ gegen Karlsruhe (9:0), und die Löwen innerhalb einer Woche Hertha (6:4) vermöbelten; vom HSV (9:2) und Dortmund (6:1) zu schweigen. Als der Radi in der Rolle des stürmenden Torwarts die Zuschauer auf eine Achterbahn der Gefühle schickte und Peter Grosser '66 die Meisterschale präsentierte.

Die Söhne-Generation hat am Mythos nicht mitgewoben. Den 0:4-Rückstand im Rückspiel gegen Bielefeld aufgeholt; nach acht Jahren Pause das Derby gegen Bayern 3:1 gewonnen; des 42-jährigen Radis Abschiedsspiel mit dem 4:1-Sieg der Löwen '66 gegen die Löwen '77: alles im Olympiastadion, dem ungeliebten.

Was aber macht den Mythos für die Enkel aus, die Handy- und Laptop-Generation? Es ist ja wahr, dass sich die Löwen in Giesing vor einem Jahrzehnt aus der Bayernliga in die Bundesliga zurück katapultiert haben. Die Idole: Magic Kneißl, Dirigent mit der Zehn auf dem Trikot, der einzige Ampfinger mit übersinnlichen Fähigkeiten. Peter Pacult, der Wiener mit Schmäh und Torinstinkt. Und Werner "Beinhart" Lorant, ein Trainer, der ein Jahrzehnt lang das Gesicht der Mannschaft prägen sollte.

Weshalb die Löwen-Fans sich das Städtische Stadion zu ihrer Heimat erkoren haben, und nicht die Konkurrenz vom FC Bayern, der sich in Giesing ins Europacupfinale kämpfte und den deutschen Meistertitel gewann? Kann sein, auch ein bisschen, weil die Sportstätte einst 1860 gehörte. Das Gelände wurde 1922 gekauft, und ein Stadion für 40 000 Zuschauer draufgebaut, benannt nach dem Vorsitzenden Heinrich Zisch. 1937 verkauft für 357 569 Reichsmark an die Stadt, unter dem Druck der Nazis. Nach dem Krieg aus Trümmern wieder erstanden als Städtisches Stadion.

Der Mythos lebt. Länger als das Stadion? Auf den Rängen regt sich die Natur. Hinter vorgehaltener Hand wird im Rathaus der Abbruch angemahnt; ehe die Grünen die Arena zum Biotop erklären, warnen Witzbolde. Gefahr droht im Winter. Die Alten wissen, dass nicht selten "die Gfier" tückisch glatt noch im März im Rasen vor der Haupttribüne saß.

Damals hat der Bauer Poldi, ein legendärer Zeugwart, die regelwidrig lang aus den Stollen ragenden Nägel mit Leim kaschiert, und die Sechziger fuhren auf dem planierten Schneeboden mit ihren Gegnern Schlitten. Das ist Geschichte. Jetzt kann es kommen, dass 60 nicht bloß fünf Mal im Olympiastadion spielt, sondern auch im Winter, wenn es schneit. Und Stadt wie DFL den Zwangsumzug auf den beheizten Rasen befehlen.

Ein Jahr später hilft alles nichts mehr. Ab nach Freimann, in die neue Heimat. Wenn 1860 dort spielt, leuchten die 2872 Luftkissen des Dachs blau. Das wirkt heimelig. Und ein Löwen-Museum gibt es auch.

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