Griechisches Nationalteam bei der EM:Anspruchslos in der Holzklasse

Die meisten Teams schotten sich bei der EM ab. Sie mieten komplette Wellness-Ressorts, wo sie die Außenwelt aussperren. Nicht so die Griechen: Sie wohnen in einem günstigen Familienhotel. Kapitän Georgios Karagounis gibt Kindern in der Lobby anstandslos Autogramme, und Theofanis Gekas muss sich selbst beim Fernsehschauen unterordnen.

Boris Herrmann

Theofanis Gekas sitzt in der Lobby der griechischen Teamhotels. Er scheint nicht wirklich etwas zu tun. Er sitzt einfach nur da. Alleine. Im Hintergrund läuft ein Fernseher, aber Gekas schaut nicht hin. Vielleicht denkt er nach. Es ist Sonntagabend, ein griechischer Schicksalsabend. Gleich werden die ersten Hochrechnungen der Parlamentswahlen über die Nachrichtensendungen laufen. Es könnte dabei um Griechenlands Verbleib in der Euro-Zone gehen.

Fußball Griechenland

Domizil der griechischen Nationalmannschaft: das Hotel Warszawianka in Jachranka nördlich von Warschau.

(Foto: dpa)

Gleich werden auch die Fußballspiele in der Gruppe B beginnen. Dabei entscheidet sich, auf welchen Gegner die Griechen im Viertelfinale treffen. Woran denkt Gekas also? An den Euro? Die Euro? Beides? Als Gekas den Reporter aus Deutschland erblickt, sagt er: "Chey, was ist denn los mit Cherta?"

Der griechische Stürmer Theofanis Gekas spielte von Januar bis Juni 2010 bei Hertha BSC. Es zielte damals so lange am Tor vorbei, bis die Berliner abgestiegen waren. Inzwischen ist die Hertha erneut abgestiegen, ohne Gekas, dafür mit Otto Rehhagel, seinem ehemaligen Nationalcoach. Gekas sagt: "Berlin war schwer für Otto. Ist Katastrophe."

Man staunt doch immer wieder darüber, wie so eine Fußballerseele funktioniert. Und welche kleinen Katastrophen darin mit welchen großen Katastrophen konkurrieren. Von außen wird gerade die gesamte Zukunft Europas in den Turnierauftritt dieser Griechen hineininterpretiert. Und im ersten Moment, nach dem überraschenden Viertelfinaleinzug am Samstagabend gegen Russland, haben sich ja tatsächlich einige Spieler staatsmännisch geäußert.

Der langhaarige Stürmer Samaras, der rein zufällig wie der Wahlsieger in Athen heißt, sagte: "Wir sind stolz, dass unsere Leute zu Hause für einen Moment die Probleme der Realität vergessen können." Am Sonntag aber haben die griechischen Fußballer zur Belohnung einen Tag frei bekommen. Und es hat den Anschein, als hätten sie sich dabei wieder sehr schnell in ihrer Halbrealität eingerichtet, die aus Bällen und Toren besteht.

Gekas freut sich über ein Internetfilmchen von den griechischen Jubelfeiern in Frankfurt. Dort hat er auch mal gespielt. Als ihn sein Teamkollege Georgios Tzavellas in der Lobby besucht, reden die beiden über Hertha, über Frankfurt, über das Wetter in Polen sowie über die mögliche Aufstellung ihres Viertelfinalgegners Deutschland ("Vorsicht vor Gomez!"). Im Garten sitzen die Assistenten von Trainer Fernando Santos und rauchen. Und der Verteidiger Sokratis von Werder Bremen unternimmt derweil mit ein paar Kumpels eine Stadtrundfahrt durch Warschau.

In der Regel sind die Protagonisten bei einem Turnier auf der Suche nach größtmöglicher Abschottung. Sie mieten komplette Wellnessressorts und lassen sie - wie der DFB - weiträumig absperren. Der griechische Verband schottet sich nicht im Geringsten ab. Weil er es sich nicht leisten kann, wie einige Journalisten aus Athen unken.

Ihre Nationalmannschaft hat ein paar Zimmer in einem Familienhotel namens Warszwawianka am hübschen Zegrzynski-See gebucht. Sie lebt inmitten eines Warschauer Naherholungsgebietes, umringt von Naherholern. Ab und an, wenn Georgios Karagounis im kurzen Höschen durch die Empfangshalle stapft und seine frisch rasierten Beine zeigt, kommen ein paar polnische Kinder angerannt und rufen "Kara! Kara!".

Der griechische Rekordnationalspieler, der Kapitän von 2012 und EM-Held von 2004 lässt sich anstandslos mit ihnen fotografieren, er unterschreibt ihre Fußbälle und ihre weiß-roten Trikots. Seine Kollegen Gekas, Tzavellas und Samaras haben da deutlich weniger Arbeit. Die polnischen Kinder kennen sie nicht. Noch nicht.

Eine geradezu rührende Normalität herrscht im Quartier des deutschen Viertelfinalgegners. Vor dem Eingang parkt der Mannschaftsbus neben einer bunten Kinderhüpfburg. Im Konferenzraum "Sala Warszwaska", unweit der Rezeption, lagern die mitgebrachten Trikotsätze und, wenn der flüchtige Blick nicht trügt, auch einige Eimer mit Nahrungsergänzungsmitteln. Der Raum ist nicht abgeschlossen.

Man kann sich auch ohne Probleme im Warszwawianka einmieten und den Griechen beim Normalsein zuschauen. Es gibt keine Einlasskontrolle. Das Einzelzimmer "Standard" kostet 75 Euro, die Kategorie "Deluxe" ist für 100 Euro zu haben. Es ist den griechischen Spielern zu wünschen, dass sie alle ein Deluxe-Zimmer abbekommen haben: Im Standardbett liegt man doch recht hölzern. Es gibt keine Klimaanlage, und wenn man das Fenster öffnet, blickt man auf einen braunen Erdhügel. Außerdem kommen nach Sonnenuntergang die Stechmücken vom Zegrzynski-See vorbei.

"Otto! Fantastic! Otto, my friend!"

Karagounis kommt jetzt von seinem kleinen Abendspaziergang im Hotelgarten zurück. Er steht nicht nur bei den Autogrammjägern, sondern auch bei den Medien im Zentrum der Aufmerksamkeit. Weil er das Tor gegen Russland erzielte. Weil er nach einer unberechtigten gelbe Karte auf tragische Weise das Viertelfinale in Danzig verpassen wird. Und natürlich, weil er Karagounis ist, der große Grieche, der auch schon im EM-Finale 2004 gelbgesperrt fehlte.

Herr Karagounis, es gibt ganz erstaunliche Parallelen zum damaligen Überraschungsteam von Otto Rehhagel. Muss sich Europa auf das zweite griechische Fußball-Wunder einstellen? Otto! Fantastic! Otto, my friend!", sagt Karagounis.

Am Sonntagabend gibt Trainer Santos eine Pressekonferenz in einem Hinterzimmer, das den wunderwiederholungsverdächtigen Namen "Sala Europejska 2" trägt. Gut die Hälfte der Stühle bleibt frei. "Die Krise", sagen die griechischen Kollegen. Es sind allerdings auch erstaunlich wenige internationale Medienleute da. Diese seltsam zähen Turnier-Griechen hatte bis Samstagabend niemand auf der Rechnung.

Handgezählte 24 Journalisten hören, wie der Portugiese Santos den bedeutungsschweren Satz sagt: "Ich bin Grieche!" Das kann, das muss man wahrscheinlich politisch verstehen. Ein gewisser Patriotismus ist schon zu spüren im Lager der Erfolgsfußballer aus dem Krisenland. Und selbstverständlich werden die Spieler später am Abend mit einem Auge auf den Ausgang der Wahlen in der Heimat schielen.

Das heißt aber noch lange nicht, das die Sportzeitung Goal News die Stimmung im Team repräsentiert, wenn sie angesichts des Viertelfinal-Gegners Deutschland titelt: "Bringt uns Merkel!" Stellvertretend für seine Kollegen teilt der Verteidiger Ioannis Maniatis am Montagmorgen mit: "Wir reden hier über Fußball und nichts anderes. Das wird ein ganz normales Spiel."

Noch einmal zurück zu Theofanis Gekas, der am Sonntagabend um 20:45 Uhr noch immer unten in der Lobby sitzt. Gekas dreht seinen Sessel jetzt doch so hin, dass er einen guten Blick zum Fernseher hat. Er möchte das Spiel zwischen Deutschland und Dänemark sehen. Es läuft aber Portugal gegen Holland. Gekas lässt bei einem Hotelangestellten fragen, ob er umschalten könne. Zwei Minuten später teilt man ihm mit: Leider nein. Es seien noch andere Gäste da, die würden lieber Cristiano Ronaldo gucken.

Gekas bleibt bis zur 22. Minute sitzen. Dann erhebt er sich ganz langsam und geht auf sein Hotelzimmer. Als er oben ankommt, sind die Wahlen in Athen entschieden. Und bei Deutschland gegen Dänemark steht es 1:1.

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