Grandiose Generation ohne Titel:"Ich habe es immer wieder probiert"

Nach seiner dritten Niederlage in einem Finale der Copa América verkündet Lionel Messi seinen Rücktritt aus der argentinischen Fußball-Nationalmannschaft.

Von J. Schmieder, New York/Los Angeles

Wer Lionel Messi in diesem Moment sah, auf dem Rasen im Stadion von New York, der wusste, dass es vorbei war. Das Elfmeterschießen im Finale der Copa América Centenario zwischen Argentinien und Chile, es lief noch, doch kein Mensch, der noch gewinnen wird, sieht so aus wie Messi in diesem Augenblick. Er sah nicht einmal so aus wie einer, der verlieren wird - sondern wie einer, der längst verloren hat. Er vergrub sein Gesicht im Trikot der argentinischen Nationalelf, er taumelte ohne Ziel über den Rasen, als der Chilene Francisco Silva von der Mittellinie nach vorne marschierte. Silva kniff die Augen zusammen, er sah so aus wie einer, der gewinnen wird. Dann prügelte er den Ball ins Tor.

Messi setzte sich aufs Spielfeld, den Blick nach unten gerichtet. Vielleicht zählte er die Grashalme, vielleicht dachte er auch darüber nach, wie er gleich seinen Rücktritt aus der argentinischen Nationalelf verkünden würde. Nicht auf einer prächtigen Pressekonferenz nach einem Triumph, sondern nach einer bitteren Niederlage in den Katakomben einer notdürftig auf Fußball getrimmten Footballarena. "Das war's", sagte er dem verblüfften Reporter des argentinischen Fernsehsenders TyC: "Ich habe vier Endspiele verloren, vielleicht ist das einfach nichts für mich. Es tut weh, kein Sieger zu sein."

Messi sollte dieses Finale prägen. Dann verlor er es, indem er den ersten Elfmeter verschoss

Messi, der wohl begnadetste Kicker auf diesem Planeten, beendete seine Nationalelf-Karriere lächelnd und beinahe lapidar, während hinter ihm die Mitspieler vorbeischlichen und sich ein Ordner an einer Eisenstange festhielt und sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Auf dem Spielfeld, direkt nach dem Schlusspfiff, da hatte Messi Tränen in den Augen. Er schien irgendwas oder irgendjemanden anzustarren, in Wirklichkeit sah er wahrscheinlich überhaupt nichts. Ein Mensch kann zwar in der Lage sein, überhaupt nichts zu sehen - aber nicht, an überhaupt nichts zu denken. Es würde nicht verwundern, wenn Messi in diesem Moment, während ihm sekündlich jemand auf die Schulter klopfte, an all die Dinge dachte, die so passiert sind in den vergangenen drei Wochen.

An die 30 000 Kilometer, die er mit dem Flugzeug zurückgelegt hatte, um vom spanischen Pokalfinale in Madrid zum Trainingslager der Argentinier nach Buenos Aires zu gelangen. Von dort aus reiste er - nachdem er sich im Vorbereitungs-Kick gegen Honduras am Rücken verletzt hatte - nach Barcelona, wo er sich vor einem Gericht gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung verteidigen musste. Schließlich flog er an die Westküste der Vereinigten Staaten, um die erste Partie zumindest von der Bank aus verfolgen zu können.

Wahrscheinlich dachte er auch an die riesigen Erwartungen in der Heimat, schließlich ist Messi kein Hochbegabter unter Mittelmäßigen, sondern der Anführer einer grandiosen Generation, die bislang einfach keinen bedeutenden Titel gewonnen hat. Die bei den vergangenen drei Weltmeisterschaften an Deutschland scheiterte und bei der Copa América drei Endspiele (2007, 2015, 2016) verlor. Die bereits geschmäht wird von jenen, die etwas gewonnen haben, wie dem Fußballmaskottchen Diego Maradona, der Messi im Laufe des Turniers die Qualitäten als Anführer absprach ("Er hat keine Persönlichkeit") und Messi den Ratschlag gab, sich bei Misserfolg in der Heimat nicht mehr blicken zu lassen. Messi selbst sagte nach dem Halbfinal-Sieg gegen die USA, als er sich gerade mit einem prächtigen Freistoß zum Rekordtorschützen Argentiniens befördert hatte: "Es wird nun Zeit, dass wir diese 23 Jahre dauernde Durststrecke beenden."

Es war ein berauschendes Turnier für die Argentinier, sie gewannen ihre Partien allesamt überzeugend: 2:1 gegen Chile, 5:0 gegen Panama, 3:0 gegen Bolivien, 4:1 gegen Venezuela, 4:0 gegen die USA. Messi gelangen in gerade einmal 254 Minuten fünf Treffer und fünf Vorlagen. Es störte nur, dass der argentinische Fußballverband AFA so organisiert ist wie eine von Messi zerdribbelte Defensive. Drei Tage vor dem Endspiel wurden Verbandspräsident Luis Segura und andere Funktionäre wegen Korruption angeklagt, es gab während des Turniers immer wieder Komplikationen mit Flügen, Hotels und Trainingsplätzen. Messi sagte: "Die von der AFA sind ein Desaster, mein Gott! Wir müssen Dinge ändern. Nicht nur für uns, sondern für die nach uns. Ich werde nach dem Finale erzählen, was ich denke, fühle und sehe."

Messi dachte, als er da auf dem Rasen saß, sicherlich auch an dieses Endspiel, das ihm endlich diesen strahlenden Diamanten in seiner ohnehin mit reichlich Edelsteinen besetzten Krone (vier Champions-League-Siege, acht spanische Meisterschaften, vier Pokalsiege mit dem FC Barcelona - dazu ist er fünfmaliger Weltfußballer des Jahres) bescheren sollte. Das auf Superstars und Spektakel getrimmte amerikanische Publikum erwartete nichts weniger als eine Messi-Show mit sagenhaften Zauberdribblings, feinen Pässen und einem unfasslichen Freistoßtor. Es hielt bei jeder Ballberührung von Messi gebannt den Atem an, jederzeit bereit, eine grandiose Aktion zu bejubeln.

Diese Aktion jedoch gab es nicht. Messi provozierte mit einem gekonnten Sprung in den Gegner den Feldverweis für Marcelo Díaz, wenig später bekam er wegen eines weniger gekonnten Sprungs im Strafraum selbst eine Verwarnung. Nur zwei Drittel seiner Pässe erreichten die Mitspieler, er schoss nur einmal aufs Tor und zweimal vorbei. Schlimmer noch: Messi war der erste Elfmeterschütze der Argentinier - und prügelte das Spielgerät dorthin, wo auch die Bälle von Uli Hoeneß (EM 1976) und Sergio Ramos (Champions League 2012) liegen dürften. Er, der dieses Finale hätte prägen sollen, er konnte es nicht gewinnen. Er verlor es sogar. "Natürlich musste ich das sein, der den Elfmeter verschießt", sagte er danach: "Der erste Elfmeter ist der wichtigste von allen - und ich treffe nicht."

Er hat in seiner Karriere derart oft gewonnen, dass ihm der zweite Platz wie eine Schmach vorkommt. "Was nützt es denn, wenn man ein Finale erreicht und es dann verliert", sagte er: "Ich habe es immer wieder probiert, aber es hat nicht geklappt. Ein Titel mit Argentinien war das, was ich am meisten wollte." Mit Vollbart und neuer Frisur sieht Messi inzwischen ein bisschen aus wie der Barkeeper einer hippen Bar in Brooklyn/New York, vor allem aber wirkt er älter, als er wirklich ist. Er feierte am vergangenen Freitag seinen 29. Geburtstag, er kann noch einige Jahre auf diesem Niveau spielen, das sonst keiner auf der Welt erreicht. Er will es jedoch nicht mehr für Argentinien tun.

Vielleicht dachte er, als er das Trikot der argentinischen Nationalelf auf den Kopf gezogen hatte, daran, dass er mit dem FC Barcelona - dem er sich im Alter von 13 Jahren anschloss und wegen dem er seit 2005 auch die spanische Staatsbürgerschaft besitzt -, nur selten solch bittere Abende durchleben musste. Und dafür zahlreiche Erfolge feiern durfte. Womöglich ist ihm, in diesem Moment auf dem Rasen im Stadion von New York, der Gedanke gekommen, dass seine Heimat nicht Argentinien ist.

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