Mirra Andrejewa steckt den Kopf unter die Bettdecke. Das ist ihre Art, mit Niederlagen auf dem Tennisplatz umzugehen, sie ist erst 17 Jahre alt. Nach zwölf Stunden Schlaf oder ein paar Tagen Pause, sagt sie, sieht die Welt für sie wieder positiver aus. Coco Gauff, drei Jahre älter und als US-Open-Siegerin wesentlich erfahrener, zieht es vor, spätestens am Folgetag erneut auf dem Platz zu stehen: In Paris etwa hatte sie noch Chancen im Doppelwettbewerb, für den sie neben dem Einzel gemeldet war. Die negativen Gedanken zu verdrängen, sei allerdings keine leichte Aufgabe, besonders nach einem solchen Halbfinale: „Da muss ich mich zur Amnesie zwingen.“
Coco Gauff hatte sich im Halbfinale der French Open der Weltranglistenersten Iga Swiatek, 23, geschlagen geben müssen. Trotz ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten, ihres mächtigen Aufschlags zum Beispiel, fand sie in diesem Duell zweier Grand-Slam-Champions kein Mittel gegen die polnische Sandplatzspezialistin.
Nun gehört das Verlieren im Tennissport zum Geschäft, und als Spielerin lernt man besser früh, sich damit abzufinden: Bei jedem Grand-Slam-Turnier treten 128 Hoffnungsvolle in der ersten Runde an, bis zum Schluss müssen sich 127 ins Unvermeidliche fügen – die Hälfte des Feldes schon nach der ersten Runde. Nur eine scheint den Gesetzmäßigkeiten der Branche stets aufs Neue widerstehen zu können: Iga Swiatek, die in Paris seit 21 Matches unbezwungen ist. In dieser Statistik von Roland Garros hat sie sogar die Jahrhundertspielerin Steffi Graf überflügelt. Swiateks Übermacht trug, in Ziffern ausgedrückt, zuletzt tatsächlich Graf’sche Züge: 6:0, 6:0 (gegen die Russin Potapowa), 6:0, 6:2 (gegen Wimbledonsiegerin Vondrousova), 6:2, 6:4 (gegen Gauff). Lediglich der Japanerin Naomi Osaka gelang es in der zweiten Runde in drei Sätzen, Swiatek am Rand der Niederlage zappeln zu lassen; es war ihr einziger Schreckensmoment im Turnier.
„Brava, bravissima“, rufen die italienischen Journalisten, jede professionelle Distanz vergessend
Im Finale an diesem Samstag um 15 Uhr wird sich jetzt die Italienerin Jasmine Paolini an der heroischsten Aufgabe messen, die ihr Sport momentan zu bieten hat: die dreimalige French-Open-Siegerin Swiatek, die zum vierten Mal im Finale steht, von der Höhe ihres Podests, bestehend aus Schichten von Drainagegestein, Schotter, Schlacke, weißem Kalkstein und rotem Ziegelmehl, zu stürzen. Paolini, 28 Jahre alt, die nie zuvor im Finale eines so großen Turniers gestanden hat – geschweige denn in einem Halb- und Viertelfinale –, ist eine überraschende Kandidatin.
„Brava, bravissima“, riefen die italienischen Journalisten, jede professionelle Distanz vergessend, als die 1,63 Meter kleine Paolini nach ihrem Halbfinalsieg den Presseraum betrat. Sie hatte zuvor die 17-jährige, schwer enttäuschte Russin Mirra Andrejewa geschlagen. Paolini, die in der Toskana geboren wurde und in Bagni di Lucca lebt, mag außerhalb ihres Landes noch relativ unbekannt sein. In der Weltrangliste aber hat sie sich mit ihren kraftvollen Vorhandschlägen auf schnellen Füßen konstant bis auf Position 15 hochgearbeitet; kommende Woche steht sie erstmals unter den besten Zehn.
Um die Jahreswende hat sie die dreimalige Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber bei deren Comeback nach der Schwangerschaft beim United Cup in Australien geschlagen; kurz darauf gewann sie das Turnier in Dubai. Auf die Frage, wie ihre enorme Steigerung relativ spät in der Karriere zu erklären ist, antwortet sie mit einem Lachen. Sie lacht gern. Als Kind, sagt sie, hat sie nie davon geträumt, die Nummer eins zu werden, das hielt sie für absurd. Wenn sie früher gegen namhafte Spielerinnen antrat, habe sie immer auf ein „Mirakel“ gehofft: „Jetzt gehe ich auf den Platz und sage mir: Okay, es wird hart, aber ich habe eine Chance.“
Als Kind hat Jasmine Paolini die Sommer oft in Lodz verbracht
Sie hat mit der Zeit gemerkt, dass sie mithalten kann mit den Weltbesten, die Niederlagen wurden weniger eklatant. Zudem fühlt sie sich von dem frischen Wind beflügelt, der derzeit von Südtirol, genauer gesagt von Sexten, bis zum Stiefel nach Apulien weht. Der Davis-Cup-Sieg im vergangenen Jahr, der Australian-Open-Triumph von Jannik Sinner im Januar, sein Aufstieg an die Weltspitze als erster Spieler Italiens, das alles habe Kollegen wie Lorenzo Musetti, Matteo Arnaldi oder Elisabetta Cocciaretto beschwingt: Jeder spiele zwar für sich allein, „aber Siege helfen allen“. In Rom hat sie jüngst überraschend an der Seite von Sara Errani, der French-Open-Finalistin von 2012, die Doppel-Konkurrenz gewonnen; auch in Paris stehen beide im Doppelfinale und treffen auf Coco Gauff/Katerina Siniakova (USA/Tschechien). Die Festa Italiana kommt gerade erst in Schwung.
Wobei sich Jasmine Paolini auch auf andere Einflüsse stützen kann: Ihr Großvater kommt aus Ghana – „wegen Ghana bin ich so schnell auf den Beinen“ –, ihre Mutter aus Polen. Als Kind hat sie die Sommer oft in Lodz verbracht. Sie spricht auch Polnisch, und vielleicht, sagt sie, wird sie Iga Swiatek am Netz auf Polnisch begrüßen. Und wenn sie verliert? Dann wird sie trotzdem versuchen, positiv gestimmt zu bleiben. „Mein Coach sagt immer, Lächeln sei wichtig für mich“, sagt Paolini. Egal, wie es ausgeht, sie will das Finale genießen.