Süddeutsche Zeitung

Bergamo-Profi Gosens:Spiel eins nach Spiel null

Bergamo war Italiens Hotspot in der Pandemie und ist längst nicht gesund, sagt der Deutsch-Holländer Robin Gosens. Sein Klub Atalanta hat eine Menge durchgemacht.

Von Sebastian Fischer

Wenn Robin Gosens erklärt, warum er an diesem Sonntag wieder Fußball spielen will, dann erzählt er von einer Begegnung mit einem Fan. Er habe ihn neulich auf der Straße getroffen, im Zentrum von Bergamo: Dino, geschätzte 60 Jahre alt. Dino, sagt Gosens, habe ihm erzählt, dass er seine Frau an das Virus verloren habe. Und dass er sich ein kleines bisschen Ablenkung wünsche, durch Spiele seines Lieblingsvereins.

Überall in Europa, wo jetzt nach der Corona-Pause wieder gespielt wird, sind der Sport und seine Bedeutung als Vergnügen der entwöhnten Menschen überhöht worden. Nirgends war die Rolle des Fußballs tatsächlich so dramatisch wie in Bergamo, auf verhängnisvolle Weise.

Der Klub der Provinzstadt im Norden Italiens, in der später so viele starben, dass Särge mit Armeelastern fortgefahren werden mussten, spielte am 19. Februar das größte Spiel seiner Geschichte. 4:1 gewann Atalanta im Achtelfinale der Champions League das Hinspiel gegen den FC Valencia im 50 Kilometer entfernten Stadion San Siro in Mailand, wo die Begegnung ausgetragen wurde. Mehr als 40 000 Fans reisten aus Bergamo und Umgebung an, sie lagen sich in den Armen und feierten.

Drei Wochen später, nach dem 4:3 im Rückspiel vor leeren Rängen in Valencia, schickte die Mannschaft bereits Trost in die Heimat, die gegen das Virus kämpfte. "Bergamo, das ist für dich. Gib nicht auf", stand auf einem Leibchen, das die Spieler in die Kameras hielten.

Noch mal zwei Wochen später, als niemand mehr spielte, galt das 4:1 als "Partita zero", Spiel null. Als Ereignis, das die Ansteckungen beschleunigt haben dürfte.

Gosens, 25, aus Emmerich am Rhein, hatte bis März eine märchenhafte Saison gespielt. War er vor einem Jahr wie viele seiner Mannschaftskollegen noch ein relativ unbekannter Fußballer, einer zudem, der es über den Umweg Niederlande und ohne ein Spiel für einen deutschen Profiverein, geschweige denn für eine Auswahl des DFB in die Serie A geschafft hatte, war er nun ein wichtiger Teil von Europas Überraschungsteam. Als linker Außenverteidiger und Flügelspieler trieb er mit langen Schritten und scharfen Pässen das wirbelnde Offensivspiel der "Dea" an, Göttin, so wird der Klub genannt. Acht Tore und fünf Vorlagen gelangen ihm in 30 Spielen.

Dann, im März, begann für Gosens eine Zeit, die auch ihn veränderte. Er erzählt davon am Telefon, während er im Auto vom Training nach Hause fährt, durch eine Stadt, "die noch nicht gesund ist", so fühle es sich an. Die Menschen in Bergamo tragen auch auf der Straße Schutzmasken, manche Gummihandschuhe. Es ist Donnerstag, der Tag nach dem Pokalsieg des SSC Neapel gegen Juventus Turin. In Italien wird schon seit Tagen wieder Fußball gespielt, an diesem Wochenende geht die Serie A weiter, vor leeren Rängen und mit strengem Sicherheitskonzept, klar. Aber in Neapel feierten die Fans den Triumph mit Autokorso. Corona war wie vergessen.

Atalanta spielt am Sonntsag gegen Sassuolo

In Bergamo, wo Atalanta mehr als vier Monate nach dem bislang letzten Heimspiel am Sonntag gegen Sassuolo antritt, gebe es zwei Lager, sagt Gosens. "Das eine sagt, wir haben Bock, dass es losgeht. Das andere sagt: Seid ihr eigentlich bescheuert? Beide Seiten versteht man irgendwie."

Während der acht Wochen Lockdown, als die Zahlen der Opfer stiegen und stiegen, er kaum vor die Tür ging und draußen ständig die Sirenen der Krankentransporte hörte, dachte auch Gosens nur mit Mühe an Fußball. Er lebt mit seiner Freundin zusammen, sie motivierten sich gegenseitig, erzählt er: Badminton, Fußballtennis, Dribbeln durch einen Parcours im Innenhof. Als er wieder auf dem Trainingsplatz stand, dachte er trotzdem, seine Form komplett verloren zu haben.

Doch das ist es eher nicht, was er meint, wenn er von Veränderungen spricht, sein Fitnesslevel sei inzwischen wieder gut. Er meint, dass er sich mit anderen Themen beschäftigte als sonst. Er hatte viel nachzuholen in seinem Psychologie-Fernstudium, er habe Dokumentarfilme geschaut und gelesen, Biografien von Überlebenden des Holocaust zum Beispiel. "Mir ist aufgefallen, dass ich kein breites Wissen darüber habe. Ich habe die Zeit genutzt, das ein bisschen aufzuarbeiten."

Gosens gehört zum Typ junger Fußballer, dem man es durchaus zutrauen kann, sich differenziert zu gesellschaftspolitischen Themen zu äußern. Er ist auch in Deutschland längst nicht mehr unbekannt. In den vergangenen Monaten hat er zahlreiche Interviews gegeben, er war im ZDF-Sportstudio zugeschaltet, um aus dem Zentrum der Corona-Krise zu berichten. Er gewann eine Publikumswahl zum "Deutschen Fußball Botschafter", als beliebtester Profi im Ausland. Auch Joachim Löw kann ihn wohl kaum noch übersehen. Der Bundestrainer verriet dem kicker, dass er Gosens für die Länderspiele im März, wenn sie nicht ausgefallen wären, erstmals nominieren wollte.

Gosens hat das auch gelesen, natürlich hat es ihn sehr gefreut und motiviert. "Finde ich affengeil", sagte er im Sportschau-Interview. Persönlichen Kontakt zum Bundestrainer oder zum DFB hatte er seitdem nicht, aber man könne das trotzdem so sagen, findet er: "Dass ich sehr nah dran war und hoffentlich noch bin." Im September sollen wieder Länderspiele ausgetragen werden. "Habe ich auch gehört", sagt er.

Gerade seien es aber noch andere Themen, die ihn beschäftigen. Auch zu den Transfergerüchten um seine Person, zum angeblichen Interesse europäischer Großklubs, sagt er zwar, dass ihn das freue, aber: "Aktuell finde ich es nicht passend, darüber zu reden." Genau wie er es unpassend findet, dass selbst in Italien, wo mehr als 34 000 an Covid-19 Erkrankte starben, schon wieder darüber nachgedacht wird, demnächst vielleicht Zuschauer in die Stadien zu lassen.

"Eine absurde Diskussion." Die Mannschaft sei zwiegespalten gewesen, was den Neustart angeht. Bluttests ergaben, dass Trainer Gian Piero Gasperini das Virus hatte, in der Gazzetta dello Sport sprach er darüber, dass er an den Tod dachte. Doch der Trainer, den der FC Valencia kritisierte, im März offenbar trotz Symptomen angereist zu sein, habe sich in den vergangenen Monaten nicht verändert, sagt Gosens. Gasperini sei kein bisschen weniger von seinen Ambitionen getrieben als vorher. Und als die Infektionszahlen stark zurückgingen, seien sie sich auch im Team einig gewesen, wieder spielen zu wollen - für die Menschen in Bergamo, die am Fernseher zuschauen wollen. "Der Großteil", glaubt Gosens.

Das Saisonende in der Serie A wird erst zehn Tage her sein, wenn im August die Champions League mit einem Turnier in Lissabon zu Ende gespielt wird. "Wir sind sicherlich im Vorteil, was den Rhythmus betrifft", sagt Gosens. Sie haben noch etwas vor.

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SZ vom 20.06.2020
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