Abseits und der Videoassistent:In dubio pro Mario

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Schon wieder? Auch gegen Darmstadt wird Mario Gomez ein Treffer nach einem Hinweis des Videoassistenten aberkannt. (Foto: dpa)

Beim Abseits zeigt sich: Der Videobeweis ist nicht so objektiv, wie er zu sein vorgibt.

Kommentar von Christof Kneer

Früher gab es nur die Torjägerliste. Die war auf wunderbare Weise selbsterklärend: Wer ein Tor erzielte, tauchte in dieser Liste auf; wer die meisten Tore schoss, hieß oft Gerd Müller und stand ganz oben. Irgendwann erfand jemand, dem möglicherweise langweilig war, eine weitere Kategorie, fortan gab es die sog. Scorer-Liste, in der es auch Punkte für Torvorlagen gab. In dieser Saison drängt sich nun eine weitere Rangliste zur Erfindung auf, und man wüsste wohl auch schon, wie man den Besten dieser Disziplin belohnt. Wer die Wertung "aberkannte Abseitstore" gewinnt, würde sich gewiss freuen, wenn man ihm am Saisonende anstatt der Torjägerkanone eine vergoldete kalibrierte Linie schenkt.

Erster und weltweit nicht mehr zu verdrängender Anwärter für diese Auszeichnung: Mario Gomez, dem am Montagabend bei der Zweitligapartie des VfB Stuttgart in Darmstadt (1:1) schon wieder ein Tor wegen Abseits zurückgepfiffen wurde. Das fünfte in zwei Wochen.

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Gomez, 34, ist ein Spieler, der das Stürmen in einer Zeit gelernt hat, in der man vom Stürmer genau das erwartet hat: dass er an einer gedachten Abseitslinie lauert und dann lossprintet (mit dieser Spielweise hat Gomez übrigens auch mal die Torjägerkanone gewonnen). Jetzt, auf den letzten Metern seiner Karriere, muss er feststellen, dass diese Spielweise für die eigene Torjägerseele gefährlicher sein kann als für den Gegner. So mache das keinen Spaß mehr, sagte Gomez über "diesen bescheuerten Videobeweis"; wenn man ihn immer wegen zwei Zentimetern zurückpfeife, sei das "ein Witz".

Gomez ist das Gesicht einer Debatte geworden, die spannender ist, als das dem Fußball gut tut. Gomez' Tore, die keine Tore waren, belegen prominent, dass der grundsätzlich begrüßenswerte Videobeweis nicht immer das ist, was er zu sein vorgibt: objektiv. Alle fünf Abseits-Entscheidungen waren absolut vertretbar - aber müssten sie dank der superschlauen Technik nicht nachweisbar glasklar sein?

In den meisten Fällen ist der Videobeweis beim Abseits eine große Hilfe, aber in letzter Zuspitzung verweigert sich auch das Abseits dem Videobeweis, wenn auch nicht so trotzig wie das Handspiel. Aber im Grenzbereich bleiben Fragen, die noch keiner beantworten kann. Befähigen die Kamerasequenzen den Videoassistenten in Köln wirklich, den millisekundenexakten Moment des sog. Abspiel-Impulses so präzise zu bestimmen, dass die sog. kalibrierte Linie das Knie, die Hüfte oder den linken Zehennagel des startenden Stürmers tatsächlich im millisekundenexakten Moment erwischt? Ergeben die Kameras und ihre Anzahl und Winkel in allen Stadien wirklich dieselbe Versuchsanordnung? Solange solche Fragen nicht eindeutig beantwortet werden, könnte es eine gute Empfehlung sein, sich in diesen wenigen Grenzfällen an das vormoderne In-dubio-pro-Stürmer-Prinzip zu erinnern. Ja, zwei Zentimeter Abseits sind Abseits und müssen Abseits bleiben - aber nicht, wenn noch unklar ist, ob die Messgeräte stimmen.

© SZ vom 18.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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