Die Sonne war schon lange über der kitschig-schönen Golfanlage von Pinehurst verschwunden, und wohlige Dunkelheit hatte sich ausgebreitet, da betrat Johnson Wagner noch einmal den riesigen Sandbunker, der vor dem letzten Loch als Hindernis in etwa 50 Metern Entfernung lauerte. Wagner war mal ein guter Golfprofi, diesmal agierte der 44-Jährige als Experte für den TV-Sender Golf Channel – er wollte vorführen, wie der letzte geniale Golfschlag dieser 124. US Open aussah auf eben jener Bahn. Wagner stellte sich hin, schwang – der Ball sauste weit übers Putting Green, der kurz geschorenen Rasenfläche rund ums Loch. Sein Experiment missglückte herrlich, live im US-Fernsehen.
Just in dieser Sekunde tauchte Bryson DeChambeau wie eine Fata Morgana auf, Wagner konnte es kaum glauben, beide lachten, dann forderte DeChambeau Wagner auf: Schlag noch mal! Und diesmal, das Drehbuch für diese Sequenz hätte nicht besser sein können, landete der Ball direkt beim Loch. DeChambeau, der im echten Turnier zuvor mit dieser Tat geglänzt hatte („Das war der Schlag meines Lebens“), schrie erfreut auf und – da, nimm! – drückte dem verdutzten Wagner prompt den silbernen Pokal in die Hände, den er zuvor als wahrhaftiger Sieger dieses Major-Turniers erhalten hatte. Nicht nur der Pokal funkelte, auch Wagners Augen taten es, und natürlich rundete diese schräge Begebenheit diesen ereignisreichen Tag in North Carolina ab.
Während der Runde signiert DeChambeau die Kappe eines schwerbehinderten Jungen im Rollstuhl
Golf ist ja ein Einzelsport, ein gnadenloser oft genug, eine gewisse Egomanie gehört in der Regel dazu, um zu bestehen. Aber selten gab es einen Gewinner auf der Bühne dieser Major-Turniere, der seinen eigenen Triumph derart mit anderen Menschen teilte wie dieser eigenwillige DeChambeau aus Modesto in Kalifornien. Der 30-Jährige hatte schon in den Tagen zuvor, aber ganz besonders an diesem sommerlichen Sonntagabend sehr viele Menschen glücklich gemacht.
Der Mann, den sie Hulk nannten oder Popeye oder den Wissenschaftler, weil er sein Spiel und seinen Körper analysiert, als wäre er ein exotisches Forschungsobjekt, dieser inzwischen nicht mehr ganz so aufgepumpt wirkende Athlet ging bereits während seiner vier Runden auf Tuchfühlung mit den Massen, einmal blieb er stehen, als er einen schwerbehinderten Jungen im Rollstuhl sah, er signierte dessen Kappe und tätschelte liebevoll dessen Hand. Dann schritt er lässig weiter, das alles mitten in einem Wettkampf, in dem der Sieger vier Millionen Euro Preisgeld erhalten sollte.

Später durfte jeder im Publikum DeChambeaus Trophäe berühren, alle sollten sich ein bisschen fühlen wie er bei seinem zweiten US-Open-Gewinn nach 2020; damals hatte er mit der Brechstange gesiegt, als er sich im Winged Foot Golf Club im Bundesstaat New York durchs tückisch dichte hohe Gras mit seiner damals neu zugelegten Muskelmasse gepflügt und gehackt hatte. Diesmal, auf dem Kultplatz Pinehurst No. 2, zeigte er Gefühle, spielerisch wie menschlich, sogar den tragischen Verlierer nahm er zumindest verbal in den Arm. Er, Rory McIlroy, würde sicher noch „ganz viele Majors gewinnen“, sagte DeChambeau, es klang aufrichtig. Der Imagegewinn, den er nun erfuhr, dürfte ihm mindestens so wertvoll erscheinen wie der eigentliche Sieg.
DeChambeau haderte in der Vergangenheit durchaus das eine oder andere Mal mit der Wahrnehmung seines Schaffens, die tatsächlich ambivalent war. Dies lag sicher daran, dass er mehr als nur eine Person in sich vereint und er es anderen unbeabsichtigt schwer macht, ihn vollends einzuschätzen. Er steckte quasi nicht in einer Superman-Schublade wie Tiger Woods, sondern in vielen kleineren.
Er hat einen Abschluss in Physik, er überprüft seine Bälle in einer Lauge mit Epsom-Salz
Anfangs war er der Ben-Hogan-Verschnitt mit der Schiebermütze. Sein Muskelzuwachs vor vier Jahren, als er sich in eine neue Golfprofispezies zu transformieren begann, musste dann zwangsläufig misstrauisch machen, im Spitzensport ist nicht nur Spinat im Umlauf zur Leistungssteigerung. Als Saudi-Arabien die Profitour LIV aufzog und mit Millionen bar jeder Vorstellungskraft wedelte, folgte DeChambeau als einer der Ersten dem Lockangebot aus der Wüste und machte sich die Taschen voll. Da erschien zwangsläufig seine Dauerpredigt, er wolle dazu beitragen, dass der Golfsport wachse („grow the game“), wie eine hohle Phrase. Und mit seinem akribischen Tüfteln auf dem Golfplatz erwarb er sich den Ruf des verschrobenen Kauzes, über den man sich mühelos lustig machen konnte. Längst lacht keiner mehr.

DeChambeau wagte es, seine Eisenschläger mit nur einer einheitlichen Schaftlänge auszustatten, er fertigte seine Eisenschläger per 3D-Drucker an, er hat einen Abschluss in Physik, er ist kein Profi von der Stange. In Pinehurst staunten wieder die Reporter, als DeChambeau ein Geheimnis lüftete: Er lege vor jedem Turnier seine Golfbälle in eine Lauge mit Epsom Salz. So könne er Produktfehler ermitteln, denn bei dieser Methode sehe er, ob die jeweiligen Kugeln perfekt vom Gewicht her ausbalanciert sind oder nicht.
Rory McIlroy ist gewissenhaft und ein stolzer Europäer – was er die USA gerne spüren lässt
Die Rolle seines, wie sich herausstellte, letzten verbliebenen Gegenspielers bei dieser US Open war und ist viel klarer, pointierter. McIlroy gilt schließlich als der Mann mit dem guten Gewissen, der die Moral auf seiner Seite hat, der Aufrechte, der in diesem von Geld und Gier geprägten Sport noch den Anstand hochhält, obwohl selbst Multimillionär und verlässlicher Teil der Szenerie. Das saudische Geld lehnte er ab, bislang. Aber er ist eben auch Nordire, ein stolzer Europäer, der das – gerade im Ryder Cup – die USA gerne spüren lässt. Und so war die Anteilnahme in den längst beständig Mist rotzenden sozialen Medien nach seinem K. o. nicht sehr empathisch.
Zum einen wurde der Hohn über McIlroy aufgrund zweier verschobener kinderleichter Putts zum Ende ausgeschüttet, womit er seine Zwei-Schläge-Führung verspielte und sich nicht mal ins Stechen retten konnte. Zum anderen wurde ihm negativ ausgelegt, dass er sofort die Anlage verließ. Angesichts seiner Bilanz war der Frust verständlich. Seit seinem letzten Majorsieg 2014 war er viermal Zweiter, elfmal in den Top 5 und 21 Mal in den Top 10. Er ist seit zehn Jahren der beste Profi der Welt, der nie bei den Majors siegte. Diesmal war DeChambeau (274 Schläge; 67/69/67/71) um einen Schlag besser als er (275; 65/72/69/69); Stephan Jäger wurde hervorragender 21., Martin Kaymer, 2014 US-Open-Sieger in Pinehurst, kam noch auf einen guten 64. Platz.
DeChambeau, der in den vergangenen Jahren spielerisch Täler durchschritt, kostete seinen Moment des Triumphs aus – und rückte ihn entspannt gleich in ein anderes Licht. „Ich habe realisiert, dass es eine Menge andere Dinge im Leben gibt als Golf“, sagte er. „Ich bin nicht perfekt, aber die Krise hat mir aufgezeigt, wer ich bin, was ich tun kann, was ich mit meinem Leben will.“ Ganz offensichtlich will er nicht nur sich, sondern nun auch anderen nachhaltig Freuden bereiten. Das ist eine erstaunliche Entwicklung.