Skifahrerin Sofia Goggia:Mach mal langsam

Skifahrerin Sofia Goggia: Immer wild auf den Kanten unterwegs - oder in Sofia Goggias eigenen Worten: "sicher und solide".

Immer wild auf den Kanten unterwegs - oder in Sofia Goggias eigenen Worten: "sicher und solide".

(Foto: PATRICK T. FALLON/AFP)

Die Italienerin Sofia Goggia war über Jahre die personifizierte Abteilung Attacke des Alpinsports. In diesem Winter will sie ihre zurückhaltende Seite stärker zur Geltung bringen - in den ersten Rennen ist sie so überlegen wie noch nie.

Von Johannes Knuth

In ihr wohnen zwei sehr gegensätzliche Seiten, hat die Skirennfahrerin Sofia Goggia vor ein paar Jahren einmal gesagt: eine emotionale, rasante und eine rationalere, beizeiten gar: poetische.

Die rasante Seite ist diejenige, die der Italienerin viel Aufsehen im alpinen Ski-Weltcup und auch manches Kopfschütteln eingebracht hat: Stürze, bei denen es sie in der Luft verdreht, Goggia auf den Kopf prallt, sich fängt und weiterfährt. Kurvenlagen, bei denen sie mit dem Gesäß übers Eis schlingert. Drei Kreuzbandrisse, Frakturen am Oberschenkelkopf, Sprunggelenk, Unterarm. Rennen, bei denen sie einen Skistock verliert und trotzdem gewinnt. Rennen, nach denen sie vor Freude in den Whirlpool springt, in Kleidern und Schuhen. Und auch das: ein Autounfall, bei dem sie mit dem Wagen einen Hang hinabrauscht, auf einem geparkten Wagen landet - und unverletzt hervorkrabbelt.

Die private, künstlerische Seite kennen weniger Menschen. Sofia Goggia interessiert sich für Latein, Literatur und Dichtkunst. In den sozialen Medien veröffentlicht sie nicht nur Fotos vom Fahrradfahren am Schnalstaler Gletschersee in Südtirol oder von ihrem Hund, sondern auch mal Zitate von Dichtern wie Constantine P. Cavafy und Giacomo Leopardi. Wenn sie ihre Hauptstadt bereist, kann es vorkommen, dass man Goggia am Grab des britischen Dichters John Keats antrifft, der in Rom beerdigt ist.

Skifahrerin Sofia Goggia: Mit Flagge und Geleitschutz: Sofia Goggia (links) zelebriert in Lake Louise ihren sechsten Erfolg in der Abfahrt hintereinander.

Mit Flagge und Geleitschutz: Sofia Goggia (links) zelebriert in Lake Louise ihren sechsten Erfolg in der Abfahrt hintereinander.

(Foto: Patrick T. Fallon/AFP)

Als die Skirennfahrerinnen sich jetzt in Lake Louise auf die ersten Schnellfahrten des Winters stürzten, gab Goggia ihr Debüt nach längerer Verletzungspause. Und sie fand sich gleich wieder dort ein, wo sie den Weltcup im Vorwinter verlassen hatte: in ihrer eigenen Welt. Bei der ersten Abfahrt legte sie 1,47 Sekunden zwischen sich und die Zweitplatzierte, Breezy Johnson aus den USA, weiter hatte sich selbst Goggia noch nie von der Konkurrenz entfernt. Bei der zweiten Schussfahrt hatte sie noch immer 0,84 Sekunden Guthaben auf Johnson. Das waren Vorsprünge, die man zuletzt von einer gewissen Lindsey Vonn kannte. Am Sonntag gewann die Italienerin sogar noch den Super-G, der ihr zuletzt nicht ganz so behagt hatte.

Das Bemerkenswerte war: Goggia stach schon wieder direkt und waghalsig in die Kurven, aber das Halsbrecherische ging ihren Fahrten diesmal etwas ab. Während des ersten Rennens habe sie sich "normal" gefühlt, sagte sie, als sei ihr, der Überschwänglichen, da ein Missgeschick unterlaufen. Die zweite Abfahrt sei ihr dann "sicher und solide" gelungen, wobei eine solide Goggia ja noch immer wild genug über die Eispisten brettert. Darin lag jedenfalls wohl der Schlüssel zum Erfolg: Als hätten ihre beiden Seiten zu einem Gleichgewicht gefunden, so sehr wie selten zuvor in Goggias Karriere: das Wilde und das Rationale.

Ein kleines Erweckungserlebnis, hatte die 29-Jährige vor den Rennen in Kanada erzählt, sei der vorherige Winter gewesen, der Stopp in Garmisch-Partenkirchen. Der Super-G war gerade abgesagt, Nebel hing über dem Skigebiet, und Goggia, rasant unterwegs wie immer, prallte auf einen weichen Schneehaufen - auf einer Touristenpiste. Wieder war der Schienbeinknochen lädiert, die Weltmeisterschaft in Cortina d'Ampezzo dahin, die Azzurri beim Heimspiel ihrer großen Hoffnung beraubt. Sie habe irgendwann keine Tränen mehr weinen können, gestand Goggia damals, und als sie sich wieder gefangen hatte, sinnierte sie - wieder mal - über Grundsätzliches. "Die Verletzung hat mich über meinen Selbstwert nachdenken lassen", sagte sie zuletzt der Wiener Tageszeitung Standard. Es sei an der Zeit gewesen, ihrer gemäßigteren Seite wieder mehr Raum zu geben.

Im Vorwinter gewann Goggia die Abfahrtswertung - obwohl sie das Saisonende verletzungsbedingt verpasste

Goggia hatte diese Schattierung in den Wintern zuvor schon immer mehr zur Geltung gebracht, ansonsten wäre sie heute wohl kaum noch im Weltcup unterwegs. Vor fünf Jahren trat sie erstmals ins Licht des Erfolgs; damals sagte sie, dass sie nur noch "an der Grenze" wandele, in den Jahren habe sie es zu oft "übertrieben". Von jenem Winter an flogen ihr jedenfalls die Erfolge zu, die ersten Siege im Weltcup, WM-Bronze im Riesenslalom (2017) und im Super-G (2019), der Olympiasieg in der Abfahrt (2018), zwei Mal die Abfahrtswertung - im vorherigen Winter sogar, obwohl Goggia die letzten drei Abfahrten verletzungsbedingt verpasste, so viele Punkte hatte sie zuvor angehäuft. Rechnet man die Rennen heraus, die sie im Krankenstand verfolgte, hat sie nun sechs Abfahrten hintereinander auf ihre Seite gezogen. Und dann noch der Hattrick in Lake Louise: Das war zuletzt ebenfalls der auf ihre Weise einzigartigen US-Skirennfahrerin Vonn gelungen, vor sechs Jahren.

Das scheint nun also der Plan für den neuen Winter zu sein: nicht mehr an der Grenze zu wandeln, sondern ein wenig unterhalb davon. Wie genau sie ihre weniger rasante Seite gestärkt habe, verriet Goggia in Lake Louise nicht. Der Clou, so viel räumte sie ein, sei jedenfalls nicht, noch hingebungsvoller am Linksschwung zu feilen. "Es geht immer darum, wie du dein Leben angehst", sagte sie nach ihrem zweiten Erfolg in Kanada. In einem Skifahrer könne sich ja nur das spiegeln, was in dem Menschen jenseits der Piste vor sich gehe.

Breezy Johnson legte bei der Gelegenheit ein ganz neues Maß an die Fahrten der Italienerin an. "Sie bringt den ganzen Sport voran und zeigt, was im Frauen-Skisport möglich ist", sagte Johnson. "Vielleicht", fügte sie an, "sollten die Männer so langsam acht auf sie geben."

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