Süddeutsche Zeitung

WM 2014:Was zählt, ist der kurze Augenblick

Flanke Schürrle, Tor Götze! Das deutsche WM-Duo von 2014 hat danach nicht die ganz große Karriere gemacht. Doch wenn es Fußballern gelingt, einen Moment zu schaffen, bleibt der ewig.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Es gibt sie natürlich auch immer mal wieder im Sport, diese historischen Mondlandungs- oder Mauerfall-Momente, denen dann auf ewig die Frage folgt: Wo waren Sie, als ... ?

Wobei die Frage im Sport meist eine konkretere ist: Vor welchem Fernseher saßen Sie, als ... ? Zum Beispiel 2014: Wer nicht in Rio war, der schaute ja trotzdem zu. Der war beim Public Viewing oder kaute Fingernägel vor der Glotze.

Dieses WM-Finale war ein echtes Fingernagel-Kauer-Spiel. Eines, das sich in die Länge zog, und je länger es sich zog, desto packender wurde es. Ein Duell, das die These widerlegte, wonach ein gutes Fußballspiel sehr viele Tore benötigt. Es stand 0:0 in der Verlängerung - das Duell hatte "Suspense". Also jene eskalierende Spannung, die es für einen guten Krimi braucht. Mal ein brutales Foul, mal eine getackerte Wunde, so recht wollte nix passieren, doch mit jeder Sekunde drückte es den Zuschauer tiefer in den Sessel, weil ja klar war, dass noch was kommen musste. Tore fehlten, aber ein Krimi wird ja auch nicht dadurch besser, dass ständig neue Leichen rangeschafft werden.

113. Minute: Schürrle sprintet los

War 2014 das Halbfinale das bessere Spiel? Nur weil acht Tore zu bestaunen waren? Vermutlich wird die Wo-waren-Sie-als- ... ?-Frage auch in Generationen noch viel häufiger zu jenem 7:1 der Deutschen gegen Brasilien in Belo Horizonte gestellt werden. Weil dieses 7:1 so unfassbar war. In Erinnerung bleiben Resultat und Gesamteindruck: die mitleiderregende Demütigung der von allen guten Geistern verlassenen Rekordweltmeisterelf. Aber eine markante Szene? Es gab zu viele, die Bilderflut war inflationär.

Im Kontrast dazu folgte das auf den Augenblick zugespitzte Gänsehautfinale gegen Lionel Messi und Kollegen. Wer sich das Siegtor heute im Video anschaut, dem fällt auf, dass Mario Götze gar nicht den größten Anteil daran hatte. Er hat brillant vollendet, nahm den Ball mit der Brust an, bugsierte ihn mit geschmeidiger Drehung ins Netz, wie es nur wenige vermögen. Eingeleitet aber wird die Szene lange zuvor: von André Schürrle, der jetzt, an diesem Wochenende, öffentlich machte, dass er sich mit erst 29 Jahren entkräftet aus dem Fußballgewerbe zurückzieht. Doch diese Szene, das ist sein persönlicher, sein ewiger Wo-waren-Sie-als-Mario-Götze-traf- ... ?-Moment.

113. Minute: Schürrle sprintet los, kurz hinter der Mittellinie, sieben, acht Kontakte, ein Blick, dann diese präzise Bogenflanke, die von weit draußen in den Strafraum fliegt - und die im einstigen Supermario ihren dankbaren Interpreten findet. Jenem Spieler, auch das gehört zur Spannung der Nacht, den Bundestrainer Löw erst kurz zuvor mit pathosschwangerem Befehl in ein Privatduell geschickt hatte: "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi!" In Rio de Janeiro, doch nicht auf ewig, wurde dieser Beweis erbracht.

Schürrle, der das Vorspiel gestaltete, und Götze, der finalisierte - das deutsche WM-Duo 2014 machte später nicht die ganz große Karriere. Doch was zählt, ist der kurze Augenblick: Flanke Schürrle, Tor Götze! Das bleibt für immer, so wie Helmut Rahns 1954er-Fernschuss, die 1974er-Drehung von Gerd Müller und der 1990er-Elfmeter von Andreas Brehme.

Kurze Frage: Wer schoss 2014 beim 7:1 gegen Brasilien die deutschen Tore?

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SZ vom 20.07.2020
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