Süddeutsche Zeitung

Julia Görges bei den French Open:Sie ist ihr eigener Boss

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Viele Tennisspieler lagern Verantwortung an Trainer oder Betreuer aus. Julia Görges legt viel Wert auf ihre Selbstständigkeit - unter den aktuellen Umständen könnte das ein großer Vorteil sein.

Von Gerald Kleffmann

1:6, 0:6, diese Meldung sauste vor zwei Wochen über die Nachrichtenticker; nicht als Eilmeldung, aber doch so, dass mancher Interessierter zusammenzucken konnte. So erging es ja der Verliererin dieser statistisch einseitigen Partie selbst. "Wenn man das Match in Rom nicht gesehen und nur das Ergebnis gelesen hat, könnte man durchaus denken, ich habe kein Tennis gespielt die letzten Monate", sagte Julia Görges. Dass Zahlen trügerisch sein können, ist bekannt, und für sie war das so in diesem Fall. Anfangs hatte sie Breakbälle und Spielbälle, bald machte sie andere Punkte bei knappen Ständen nicht, vorbei war's. Görges ist ob dieses Wissens damals aber auch nicht fluchend vom Platz im Foro Italico gerannt, nach der Pleite gegen Danka Kovinic (Montenegro), sondern ruhig geblieben. Sie analysierte die Lage, änderte die Pläne. Dann fuhr sie nach Holland statt nach Straßburg.

Dass Görges nun am Dienstagabend in Paris saß und vergnügt Fragen deutscher Reporter in einer Videokonferenz beantwortete, ist nebenbei auch wieder ein Beleg dafür, wie sehr Tennisprofis in der Weltgeschichte herumreisen. Auch in Corona-Zeiten. In den Niederlanden hatte Görges eine Woche lang mit ihrem im Sommer verpflichteten Trainer Raemon Sluiter intensiv an Details gefeilt. Ihr erschien das "wichtiger, als Straßburg zu spielen", das WTA-Turnier. Den ersten Lohn konnte sie in der ersten Runde der French Open ernten, es war eine turbulente Partie gegen ihre gute Freundin Alison Riske aus den USA. Drei Matchbälle vergab Görges im zweiten Satz, siegte aber 6:3, 6:7 (4), 6:1. Rom war Rom, in Paris ist Görges vorerst im Grand-Slam-Turnier angekommen: "Ich habe mein Level hochgehalten, das ist das, was zählt."

Das Feld ist sehr offen: Serena Williams muss verletzt passen - und Viktoria Asarenka verliert

Damit kommt es in der zweiten Runde an diesem Donnerstag zu einem interessanten deutschen Duell, auch taktisch gesehen. Laura Siegemund, 32, die studierte Psychologin, geht ihre Partien stets mit dem komplexen Anspruch an, gut organisierte Anarchie auszuleben. Manchmal weiß sie selbst nicht, wie der nächste Schlag aussieht, sie vertraut ihrer Do-it-yourself-Intuition. Görges geht strukturierter ans Werk, bei ihr ist ein Matchplan ein Matchplan, den sie durchziehen will. Aber trotz dieses Gegensatzes eint diese charismatischen Darstellerinnen des deutschen Tennis seit so vielen Jahren eines: Sie praktizieren gelebte Selbstständigkeit auf dem Platz, was nicht selbstverständlich ist. Oftmals brauchen Profis eine stete Bindung zum Trainer auf der Tribüne.

Bei Görges, 31, muss man keine Angst haben, dass sie etwa die Situation überfordert, ein Halbfinale in Wimbledon zu absolvieren, wie sie es vor zwei Jahren tat. Aber sie kommt auch mit verwaisten Tribünen in einer Pandemie klar, wobei sie betont: "Ich liebe auch die Stimmung, das ist das, wofür du spielst." Das, was sich deutsche Talente jedenfalls von ihr abschauen könnten, ist die professionelle Strenge gegenüber sich selbst. Ja, Sluiter gilt als einer der besten Coaches; der Ex-Profi führte einst Kiki Bertens in die Spitze. Aber Görges lagert die Verantwortung für ihr Schaffen nicht aus, was sich bei manchen Profis feststellen lässt, sobald ein neuer Trainer kommt. Sie will von dem 42-Jährigen aus Rotterdam hören, wie er sie sieht - "aber letztlich bin ich die, die alleine spielt und das Zepter in die Hand nehmen muss. Und auch mein eigener Coach sein muss". Sie wolle "von A bis Z" wissen, "was ich mache".

Ihre Einstellung hat sicher viel mit persönlicher Reife zu tun; Görges hat ja auch bewusst in den vergangenen Monaten ihr eigenes Tennis- sowie Fitnesstraining im Wechsel herunter- und hochgefahren: mit dem Ziel, auch mental frisch zu sein, wenn sie zurückkommt. Die US Open kamen ihr zu früh, sie wollte bewusst Abstand haben und hat privat manches unternommen an ihrem Wohnort in Regensburg. "Es gibt nicht nur Tennis im Leben, das war eine superschöne Zeit", sagte sie. "Es ist aber jetzt wieder schön, den Wettkampf wieder zu haben." Der gestaltet sich bei den Frauen seit Mittwoch übrigens offener. Serena Williams (USA) zog ihren Start fürs Zweitrundenmatch gegen Zvetana Pironkova wegen Achillessehnenproblemen zurück. Und Viktoria Asarenka (Belarus), die US-Open-Finalistin, unterlag der Slowakin Anna Karolina Schmiedlova 2:6, 2:6.

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SZ vom 01.10.2020
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