Glosse "Linksaußen":Trend zur echten Welt

"Knackgeräusche" und "Wer sind Sie? Wer sind Sie?": Virtuelle Mitgliederversammlungen lösen die Sehnsucht nach echtem Leiden aus, hungrig in muffigen Hallen.

Von Markus Schäflein

Seit 11 Uhr morgens dauerte die virtuelle Mitgliederversammlung des 1. FC Nürnberg bereits an, der Laptop-Akku wies noch sieben Prozent auf, der geistige Akku des Betrachters noch vier Prozent, als sich um 19.30 Uhr am Samstag etwas Besonderes ereignete. Es war, als säße man seit achteinhalb Stunden mit seiner medialen Lebensberaterin am Hexenbrett, schon schwer ermüdet, bis sich Tante Berta doch noch aus dem Jenseits meldet und rummeckert wie früher. Ein Fenster ploppte auf, und es erschien: Michael A. Roth. Der Ex-Präsident und Ehrenpräsident des 1. FCN kommt ja nicht mehr zu den Heimspielen und sonstigen Veranstaltungen, da er sein Lebenswerk trotz Ehrenpräsidentschaft nicht ausreichend gewürdigt sieht.

Seine Ausführungen zur aktuellen Klubpolitik ("befremdet mich") waren dann weniger verblüffend als die Umstände seiner Wortmeldung. Zum einen berichtete der 86-Jährige, dass er soeben von einer Geschäftsreise zurückgekehrt sei. Und vor allem zeigte sich Roth in bester Bild- und Tonqualität. Der ehemalige Teppichbaron kommt aus einer Zeit, in der die Menschen noch gerne Teppiche in der Wohnung hatten statt Laminat, Parkett oder Kork. Die Digitalisierung aber hat er überaus gut gemeistert, während jüngere Teilnehmer derart an der Verwendung der Apps Teams und Zoom scheiterten, dass einer von ihnen gar per Telefon zugeschaltet werden musste. Telefonieren - das war das, wozu man früher gemütlich auf dem flauschigen ARO-Teppich saß, wenn man mit jemandem kommunizieren wollte und das Hexenbrett gerade nicht funktionierte.

Deutschland muss digitaler werden - der Unternehmer Michael A. Roth geht da standesgemäß voran. Während zum Beispiel Uli Hoeneß vom FC Bayern München laut Insidern stetig daran scheitert, sich mit seinem Faxgerät in Zoom-Meetings einzuwählen. Und während die fast zehn Stunden lange Nürnberger Veranstaltung mindestens eine Stunde auf technische Probleme verwendete. Versammlungsleiter Dr. Adrian erläuterte "Knackgeräusche", und ein zugeschaltetes Mitglied, das offenbar Stimmen aus dem Jenseits hörte, fragte die ganze Zeit nur: "Wer sind Sie? Wer sind Sie?"

Die Pandemie hat also die Digitalisierung vorangetrieben, allerdings nur im Hause Roth - während anderswo sehnlichst auf das Ende des Virtuellen gewartet wird. Die Club-Mitglieder erteilten dem Ansinnen, in die Satzung auch für Nicht-Pandemiezeiten die Möglichkeit einer Digitalversammlung aufzunehmen, eine Absage (die nötige Dreiviertelmehrheit wurde mit 52 Prozent klar verfehlt). Dies erschien überaus vernünftig, nachdem eine einfache Mehrheit der Clubberer bereits daran scheitert, das Mikrofon anzuschalten (und 23 300 von 24 600 Mitgliedern offenbar nicht in der Lage sind, überhaupt den PC zu starten).

Beim TSV 1860 München haben sie den Retro-Trend zur echten Welt erkannt - und gehen bereits in diesem Jahr wieder zu einer Präsenzveranstaltung zurück. Am 24. Oktober wird es in der "Kulturhalle Zenith" wieder herrlich muffig werden, am Schalter für die Nachnamen A-B werden wieder weniger Menschen anstehen als am Schalter für C-Z, der Beginn wird sich um 75 Minuten verzögern, nach drei Stunden werden die Würstchen ausgehen, und zum Schluss werden zum Ende des Wochenendes alle fix und fertig sein. Zu wyld! Das wäre nächstes Jahr doch auch mal wieder was für den Club. Dann können sich die jetzigen Vorstände wenigstens sicher sein, dass Michael A. Roth nicht erscheint.

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