Süddeutsche Zeitung

Glosse "Linksaußen":Gut gesäuselt, Löwe!

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Man ahnte, dass die Pandemie das gesellschaftliche Leben nachhaltig verändern würde. Manche Auswirkungen waren aber unvorhersehbar.

Von Markus Schäflein

Zum Glück hatte das Bayerische Kunstministerium rechtzeitig zur Jahreshauptversammlung des TSV 1860 München die Corona-Auflagen für Laienmusiker geändert. Aus vorgeschriebenen zwei Metern Abstand zwischen den Musikanten (drei Meter bei Querflöten) wurden freiwillige 1,5 Meter. "Mit der 3G-Regel sorgen wir für Schutz, auch wenn beim Musizieren Maske und Abstand nicht konsequent eingehalten werden können", erklärte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek. So konnte die vereinseigene Blaskapelle die ansteckende Fröhlichkeit des Sechzger-Marschs ungehemmt auf die rund 250 anwesenden Geimpften, Genesenen und Getesteten pusten.

Die 3Gplus-Regel hatte auch andere Auswirkungen auf die Veranstaltung. Zum Beispiel war der legendäre AZ-Boulevardreporter Michael Graeter, Vorbild für "Baby Schimmerlos" aus der Serie Kir Royal, nicht dabei. "Der 80-Jährige wäre gerne heute zur Mitgliederversammlung in der Zenithhalle gegangen. Aber er durfte nicht. Der Grund: Er ist weder geimpft noch will er sich testen lassen", berichtete der vereinskritische Blog dieblaue24.com. Graeter sagte demnach: "Ich fühle mich diskriminiert."

Er wäre der letzte Mohikaner der Opposition gegen die Vereinspolitik mit Grünwalder Stadion ("Briefmarken-Arena") und Konsolidierung ("Geld schießt Tore!") gewesen, und er hatte schon eine Art Rede vorbereitet: "Die ganz bestimmten, mit den Wadeln denkenden Fans, nicht die besonders sympathischen, die den Grünwalder Regionalsportplatz favorisieren, sollen doch einen FC Giesing gründen und dort ihre Freude haben. Wäre auch Löwen-reinigend."

Wenn er aufgetreten wäre, hätte es garantiert ein ordentliches Löwengebrüll von allen Seiten gegeben, aber Graeter war nicht da, andere Kritiker waren auch nicht da, und so lief die Versammlung so harmonisch ab wie das einleitende Konzert. Medizinisch vorteilhaft: Beim Säuseln werden bekanntlich weniger Aerosole freigesetzt als beim Brüllen.

Man ahnte ja, dass die Pandemie das gesellschaftliche Leben nachhaltig verändern würde. Aber der Hamburger Fischmarkt "ohne Eventanteile" (Vorgabe des Bezirks Altona), sprich: ohne Marktschreier? Eine ruhige (Online-)Mitgliederversammlung beim 1. FC Nürnberg? Und nun auch noch eine ruhige Live-Versammlung bei den Löwen? Mit derart drastischen Auswirkungen auf unseren Alltag hatte niemand gerechnet. Weniger überraschend ist, dass ein japanischer Freizeitpark das Kreischen auf Achterbahnen verboten hat. Das wäre doch auch eine sinnvolle Idee fürs Oktoberfest, wenn es mal wieder stattfindet. Und: Pssst! Bitte Ruhe an den Biertischen! Hauptsache, die Musi spuit.

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