Glosse:Adventskalender ins Erdinnere

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(Foto: SZ)

Die Metro-Stationen in Moskau und St. Petersburg gleichen Kathedralen, in denen sogar rückwärtsgewandte Zeitanzeigen funktionieren.

Von Holger Gertz

Dass die Metro-Stationen in Moskau und St. Petersburg echte Kathedralen sind, hat jeder gehört, aber wenn man sie leibhaftig vor sich sieht, ist die Wirkung eine vollkommen andere. Ins Mauerwerk integrierte Mosaike, Kronleuchter im Erdinneren, Heldengesichter aus rostfreiem Metall, sozialistischer Realismus. "Die Stationen waren verschieden gebaut, aus verschiedenen Steinen, in verschiedener Bauart, auch das Licht kam aus immer anderer Quelle", schrieb Brecht 1935 über die Einweihung der Moskauer Metro. Über die Fahrgäste schrieb er, sie "befühlten die Pfeiler und begutachteten die Glätte", wobei sich dieses Verhalten im Lauf der Jahrzehnte verloren hat. Die Metro transportiert jeden Tag Millionen, saugt sie ein, speit sie aus, kein Mensch befühlt mehr Pfeiler.

Als Besucher hört man irgendwann damit auf, sämtliche Bronzewandbilder zu fotografieren, und widmet seine Aufmerksamkeit dem alltäglichen Detail, den kleinen Lampen zum Beispiel, mit denen die ewig langen Rolltreppen ins Erdinnere beleuchtet werden. In der Petersburger Metro geht es geordnet zu und sogar so geordnet, dass man bald erkennt: Jede dieser Lampen trägt ein eigenes Schild, auf dem ihre laufende Nummer eingestanzt ist. Auf dem Weg von ganz oben nach ganz unten kommt man also an 24 Lampen vorbei, als wäre die Rolltreppe eine Art Adventskalender. Unten dann die nächste leise Sensation. Die Zeitanzeige zeigt nicht, wie lange es noch dauert, bis die nächste Bahn kommt. Sie zeigt, wie lang die letzte schon weg ist. So etwas kann sich nur ein Nahverkehrssystem erlauben, das seiner eigenen Pünktlichkeit vertraut. Wenn in Petersburg am Metro-Bahnsteig die digitale Uhr "zwei Minuten" meldet, heißt das: Der vergangene Zug ist vor zwei Minuten gefahren. Es heißt aber auch: Der nächste trifft in diesem Moment ein, denn wenn die Züge im Zweiminutentakt kommen, gibt es keine Abweichungen, sie kommen alle zwei Minuten, und indem man dem einen Zug hinterherschaut, freut man sich auf die Ankunft des anderen. In München würde das nicht funktionieren. Wenn auf der Anzeige stünde: Der letzte Zug ist vor 17 Minuten gefahren, der nächste allerdings wegen einer Signalstörung noch nicht in Sicht - was sollten da die wartenden Fahrgäste so lange machen? Pfeiler befühlen?

Beim Russen aber läuft's. "Wer in die Wagen einstieg, wurde in fröhlichem Gedränge nach hinten geschoben", schrieb Brecht, der Prophet. Schon 1935 kannte er die Stimmung, die 2018 in der Metro herrschte, nachdem die Sbornaja das Viertelfinale bei der Weltmeisterschaft erreicht hatte.

© SZ vom 05.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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