Wer je wissen wollte, wie Oliver Glasner tickt, war nach dem prestigeträchtigsten Sieg seiner Karriere am richtigen Ort - im Camp Nou. Glasner hatte Eintracht Frankfurt gerade ins Halbfinale der Europa League geführt, durch ein schon jetzt legendäres 3:2 beim FC Barcelona, in einem von Eintracht-Fans besetzten Gegnerstadion. Doch als Glasner nach der Partie im Presseraum Platz genommen hatte, war das erste, worum er bat: Vergebung.
Nach dem Tor zum 3:0 hatte er kurz die Contenance verloren und in der Ekstase in Richtung der Bank von Barça-Trainer Xavi gejubelt, was dort mäßig gut ankam. Kein Gedanke sei ihm ferner gewesen als Hohn, beteuerte Glasner. Sollte sich jemand verletzt gefühlt haben, könne er nur um Entschuldigung bitten.
"Ernsthaft?", Glasner habe sich wirklich entschuldigt? Das fragte sich Jonatan Soriano, der einst beim FC Barcelona spielte und danach bei RB Salzburg - zu jener Zeit, als dort der Österreicher Glasner dem Trainerstab von Roger Schmidt angehörte. Soriano fand, dass diese Episode bestens zu Glasner passe. "Sehr diskret und leise" sei er ihm vorgekommen, sagte Soriano, doch die Entschuldigung sei trotzdem nicht nötig gewesen: "Diese Niederlage hat in Barcelona so tiefe Wunden gerissen - die hätten sich auch aufgeregt, wenn er nicht gejubelt hätte."
"Es ist wichtig, dass wir es nicht größer machen, als es ist. Es ist ein Finale. Aber es ist ein Fußballspiel."
Am Mittwoch (21 Uhr) steht Glasner, 47, nun mit Frankfurt im Finale von Sevilla. Im Estadio Ramón Sánchez Pizjuán trifft die in allen zwölf Europa-League-Spielen ungeschlagene Eintracht auf die Glasgow Rangers. Im Erfolgsfall wäre Glasner erst der zweite österreichische Trainer, der einen Europapokal gewinnt - bisher gelang dies nur dem unvergleichlichen, längst verstorbenen Ernst Happel, der Feyenoord Rotterdam und den Hamburger SV (1983) zu europäischem Lorbeer führte. Happel war ein Gigant, es ihm gleichzutun, sagt Glasner, "das wäre ein Nice-to-Have. Aber mein Leben würde das nicht verändern". Es höre sich "vielleicht ein bisschen blöd an", sagt er: "Aber es ist wichtig, dass wir es nicht größer machen, als es ist. Natürlich ist es ein Finale. Aber es ist ein Fußballspiel."
Seit drei Jahren arbeitet Glasner in der Bundesliga. Den VfL Wolfsburg verließ er im vorigen Sommer, obwohl er ihn in die Champions League geführt hatte. Doch mit Sportchef Jörg Schmadtke herrschte am Ende Funkstille: "Die haben ein Jahr lang kein Wort miteinander geredet, sich auf dem Flur allenfalls noch zugenickt, wenn sie sich begegneten", sagt einer, der beide aus nächster Nähe beobachtete. Diejenigen, die wissen, was vorgefallen war, bleiben im Vagen, wenn man sie darauf anspricht, am Wolfsburger Mittellandkanal genauso wie im fernen Österreich.
Als plausibelste Erklärung gilt, dass Glasner mit Schmadtke über Personalfragen in Streit geriet. Der Trainer hat eine sehr konkrete Vorstellung von dem Fußball, den er sehen will, und welche Spieler er dafür benötigt. Und ja, heißt es, auch Oliver Glasner könne stur sein: "Wenn er ned will, dann will er ned", sagt Thomas Gebauer, der Glasner als Mitspieler, Zimmergenosse und Trainer erlebt hat.
Gebauer, noch heute Spieler beim Linzer ASK und in Personalunion Teammanager, kam 2006 nach Österreich, und er lernte bei der SV Ried einen Verteidiger kennen, der schon damals wie ein Trainer gedacht habe: "Der hat nie als Fan Spiele geschaut, sondern immer auf taktische Verhaltensweisen geachtet", erinnert sich Gebauer. Die Lektionen habe Glasner dann ins eigene Spiel integriert.
Thomas Gebauer trug dazu bei, dass sein einstiger Zimmergenosse überhaupt noch am Leben ist: Im August 2011 war Glasner in einem Spiel mit Ried gegen Rapid Wien beim Kopfballduell mit einem Gegner zusammengeprallt. Er erlitt eine Gehirnerschütterung, nichts Dramatisches, so dachte man. Wenige Tage darauf fuhr Glasner dann mit Ried zu einem Europa-League-Spiel nach Kopenhagen. "In der Früh hat er zum Test ein paar Kopfbälle gemacht", erinnert sich Gebauer, "kurz vor dem Mittagessen hat er über Schwindel geklagt und mich gebeten, den Mannschaftsarzt zu rufen. Und dann hat alles seinen Lauf genommen."
Bei Oliver Glasner setzt an dieser Stelle die Erinnerung aus. Er weiß nur aus Erzählungen, dass im Krankenhaus ein Blutgerinnsel gefunden wurde. "Es war", sagt Gebauer, "puh, wirklich knapp". Glasners Frau musste am Telefon in eine Notoperation einwilligen. "Die Ärzte in Kopenhagen haben gesagt, dass an dieser Komplikation etwa 50 Prozent der Patienten sterben", erzählte Glasner 2020 im SZ-Interview.
"Er hat sich danach eine Zeit lang zurückgezogen. Es hat schon eine Weile gedauert, bis er das aufgearbeitet hatte", erinnert sich Gebauer, "zumal er wusste, dass seine aktive Karriere vorbei ist - allein das war ein Riesenschock für ihn. Aber er wollte weder im Mittelpunkt stehen, noch wollte er jemandem den Platz verbauen."
Dass es eine Welt jenseits des Fußballs gibt, das wusste Glasner schon als Profi. Ende der 1990er-Jahre hatte er über seinen Berater Jürgen Werner Kontakt zu Werner Zöchling gesucht, der Lehrer war, später Personalentwickler und Human Ressource Manager, unter anderem baute er die Verwaltung in seiner österreichischen Heimatstadt Steyr um. Teamentwicklung, Entwicklung von Führungskräften und Mitarbeitern, dies waren die Themen, die Zöchling in den Berufsfußball einbrachte, mit Theorien, die er aus der Bioenergetik ableitete - und die Oliver Glasner aufsaugte.
Zöchling war es auch, der Glasner zum Studium riet. Der schrieb sich für Wirtschaft an der Fernuni Hagen ein und schloss das Studium ab, was denn sonst? So sei er nun mal, sagt Zöchling, "das nicht zu beenden, das würde er nicht aushalten." Glasner war drauf und dran, hauptberuflich in die Wirtschaft zu gehen. Doch seine Frau drängte ihn, das zu machen, was ihm Freude bereitete: den Trainerschein.
Schon in Linz konnte man gut erkennen, welchen Fußball Glasner sehen will - und zwar bis heute
So blieb er im Berufsfußball, und in Salzburg kehrte er nach einem anfänglichen Job auf der Geschäftsstelle auf den Rasen zurück - als Roger Schmidts Assistenzcoach. "Immer nur im Hintergrund" hat ihn dort der frühere RB-Torjäger Soriano erlebt, "Oliver war keiner dieser Co-Trainer, die ich aus Spanien kannte, die sich in der Coaching-Zone aufführten oder hinterm Rücken des Trainers etwas sagten." Aber Glasner hatte auch seinen eigenen Ehrgeiz.
Beim LASK konnte man ab 2015 vieles von dem erkennen, was seine Mannschaften bis heute auszeichnet: Pressing, Gegenpressing, Intensität, Struktur - damit hatte er sich schon in seiner Abschlussarbeit beschäftigt: "Als ich Frankfurts Spiel gegen Barcelona gesehen habe, sah ich das Spiel gegen den Ball, das ich von RB kannte: Wahnsinnig viele intensive Läufe, vor allem gegen den Ball. Aber eben nicht nur", sagt Jonatan Soriano.
Als Trainer in Ried habe Glasner noch "zu hundert Prozent gegen den Ball gespielt, was in Deutschland nicht möglich ist, da muss man auch Lösungen mit dem Ball haben", wie Gebauer meint. In Ried habe er das Spiel enorm beschleunigt: "Wir sind genauso viel gelaufen wie in der Vorsaison, aber doppelt so oft im Sprint", so Gebauer. Was Glasner auszeichne? "Er hat eine klare Vorstellung davon, wie er Fußball spielen will. Er lässt nicht einfach mal ein Training laufen, sondern verlangt in jeder Einheit, dass jeder Spieler besser wird. Und er kann im Match sehr gut coachen, er hat die Gabe, alles zu erkennen. Er strebt nach Perfektion."
Auf den Gegner bereitet Glasner seine Mannschaften mit Akribie vor, ohne sie mit Informationen zu überladen: "Wir haben uns vor dem Halbfinale nicht 5000 Szenen von West Ham angeguckt", sagte sein Spieler Ansgar Knauff, "wir gucken uns an, wie wir selbst spielen wollen." Vom Finalgegner Rangers hat sich der Trainer natürlich trotzdem ein Bild gemacht: "Sie haben mit Dortmund und Leipzig zwei Topteams aus der Bundesliga eliminiert - völlig zu Recht. Ich habe Leipzig nie in solchen Troubles gesehen wie in der ersten Halbzeit bei den Rangers", sagte Glasner.
Glasner ahnt, dass es auch für die Eintracht kein gemütliches Endspiel wird: "Unglaublich druckvoll" seien die Schotten, "unglaublich aggressiv, sehr, sehr zweikampfstark, klare Struktur im eigenen Ballbesitz, variabel in der Defensivstruktur, sie haben ein sehr schnelles Spiel in die Spitze, eine super Mentalität, um in die Tiefe zu sprinten." Und dennoch: "Die Rangers spielen nichts, was es auf dem Planeten noch nicht gibt", betonte Glasner - und schob in der ihm eigenen Bescheidenheit hinterher: "Wir übrigens auch nicht."