Livigno hat die Bezeichnung Wintersportort mehr als verdient. Nur konnte sich Livignos Bürgermeister Remo Galli in diesem Moment so gar nicht darüber freuen. Eine Mischung aus Schneeflocken und Regen fiel auf einen Schirm herab, den ihm eine Assistentin hielt, während Remo Galli seine rosafarbene Flagge wieder einrollte. "Von Livigno nach Santa Cristina", stand dort vermerkt, der 16. Abschnitt dieser Radrundfahrt war als Königsetappe des diesjährigen Giro d'Italia ausgeflaggt. Doch der Südtiroler Spätwinter kennt keine Könige.
Am Dienstagmittag ereigneten sich sagenhafte Szenen beim Giro d'Italia, nur dass die Hauptdarsteller dem wenig Charme abgewinnen konnten: Am geplanten Start von Livigno zitterten und schimpften vermummte Radfahrer bei Schneefall um die Wette. An ein Radrennen war hier nicht zu denken, auch wenn Bürgermeister Galli sich seit Stunden wacker an seine Flagge klammerte. Die Fahrer der Teams von Bora-Hansgrohe und Bahrain Victorious erwischten es noch mit am besten, ihnen standen zumindest die jeweiligen Teambusse als Zufluchtsort zur Verfügung, alle anderen Busse waren bereits am Zielort im Grödener Tal angekommen.

Der Morgen hatte damit begonnen, dass die Fahrer mit einem Streik drohten, sollte die Etappe wie geplant in Livigno starten und über den Umbrailpass bis Santa Cristina durchgezogen werden. Also schlugen die Teams vor, die Bergetappe zu verkürzen und den Start an den Fuß des ersten Passes des Tages, den Giogo di Santa Maria, zu verlegen. Den Organisatoren lag allerdings daran, den Start in Livigno beizubehalten, da die Stadt für diesen Umstand bezahlt. Um 11.50 Uhr hätte das Feld dort zumindest für Fotos posieren sollen, aber niemand erschien. Ergebnis: Die Giro-Organisatoren gaben nach, verkürzten die Etappe von 202 auf nun 118 Kilometer - und verlegten den Start auf 14.30 Uhr nach Laas in Südtirol, wo es schließlich bei leichterem Regen tatsächlich losging. Der Ausweich-Start fand an einer Tankstelle statt, Esso statt SOS.

Radsport:Skiro d' Italia
Die Königsetappe der Italien-Radrundfahrt wird den Veranstaltern zum Verhängnis. Arbeiter bemühen sich mit schweren Maschinen, die Passstraße hinauf zum Stilfser Joch von Schneemassen zu befreien. Über ein Unterfangen zwischen Lawinen - das eher an Wintersport erinnert.
Der Radprofi Lucas Plapp konnte dem Prozedere wenig bis nichts abgewinnen, wie der Australier kurz vor dem tatsächlichen Start erklärte. "Die Rennorganisation ist ehrlicherweise ein bisschen ein Witz", sagte Plapp am Mikrofon von Eurosport. "Man wusste schon vor einer Woche, vor vier Tagen vielleicht, wie das Wetter wird, das ist wirklich frustrierend für uns Fahrer." Das Feld habe der Rennleitung "schon vor ein paar Tagen gesagt, dass wir hier starten wollen" statt in Livigno. Die Schneeproblematik sei absehbar gewesen, "aber so richtig auf uns gehört hat man nicht".
"Wir werden die Etappe bewältigen, wenn sie sie in einem Cabrio bewältigen"
Wenig Begeisterung ließ auch der Franzose Valentin Paret-Peintre erahnen. "Es ist lächerlich. Entweder sind sie noch nie Fahrrad gefahren oder sie haben nicht darüber nachgedacht. Wir werden die Etappe bewältigen, wenn sie sie in einem Cabrio bewältigen." Julian Alaphilippe gab den Hinweis, dass sich die Verhältnisse mehr zum "Schneemänner bauen" eigenen würden als zum Radfahren. Etwas diplomatischer drückte sich der Gesamtführende Tadej Pogacar aus. "Ich kann fahren, wenn sie das wollen", sagte der Slowene, "aber ich hoffe, dass es später keinen Unfall gibt, den wir bereuen." Abfahrten seien bei diesen Bedingungen wirklich gefährlich. Und dann raste er einige Stunden später wieder am Schlussanstieg davon - und gewann bereits seine fünfte Etappe bei dieser Rundfahrt. Bora-Fahrer Dani Martinez wurde Dritter und verbesserte sich in der Gesamtwertung wieder auf Rang zwei.
Rennleiter Mauro Vegni verteidigte die Strategie der Planer. "Das Problem ist, dass sich das Klima in den Bergen sehr schnell ändern kann und man bis zum letzten Moment warten muss, um eine Entscheidung zu treffen", sagte Vegni. Er habe "einen fairen Kompromiss gefunden, der alle zufriedenstellt".
Ihren Anfang hatte die Posse bereits vor zehn Tagen, als die Veranstalter noch darauf spekulierten, die 16. Etappe auf ihrer Ursprungsroute durchzuführen. Die sah das Highlight der Rundfahrt über eine prominente Passstraße hinauf zum in 2758 Metern Höhe gelegenen Stilfser Joch vor. Weil die Straße sich jedoch nicht rechtzeitig von den Schneemassen befreien ließ - und örtliche Behörden die Lawinengefahr als bedenklich einstuften -, wurde die Alternativroute auserkoren, für die nun wiederum eine andere Alternative ganz ohne Pass gefunden wurde. Und so ist es wie so oft im Leben: Wenn alles dicht ist, bleibt zumindest noch die rettende Tankstelle.