Gewaltbereite Fußballfans:Schizophrene Identifikation

Einst ein Kuschelklub, heute ein Wirtschaftsunternehmen: Ultra-Fangruppen richten ihre Aggression zunehmend gegen den eigenen Verein.

Fabian Heckenberger

Aus aktuellem Anlass hat Hertha BSC hat auf seiner Homepage genaue Anweisungen für die Fans veröffentlicht, was am Sonntag mit ins Stadion des VfLWolfsburg gebracht werden darf und was nicht. Zaunfahnen, Trommeln (unten offen oder einsehbar) und Fahnen mit einer Stocklänge bis 1,50 Meter sind erlaubt, wenn der Stab aus Holz und fest mit der Fahne verbunden ist. Alle anderen Gegenstände wie Holzlatten, Plastikschienen oder Metallstangen sind verboten. Das ist nicht neu, musste aber nochmal deutlich gemacht werden.

Die Szenen vom Samstag, als nach dem 1:2 der Hertha gegen den 1.FC Nürnberg 150 weitgehend Vermummte den Rasen des Berliner Olympiastadions stürmten und auf Werbebanden und Ersatzbänke einhieben, beschäftigen die Bundesliga.

Das liegt einerseits daran, dass die Debatte um Gewalt bereits vor den Übergriffen schwelte. Ende November randalierten Ultras in Berlin, Bochum und Bielefeld; eine Woche später belagerten in Stuttgart Tausende Anhänger das Vereinsgebäude; im Februar zündeten Nürnberger Fans Feuerwerkskörper und verletzten neun Personen, drei davon schwer. Das sind einige Beispiele.

Hinzu kommt, dass die Übergriffe in Berlin aus Sicht der Experten eine neue Qualität hatten. "Dass Fans auf das Spielfeld stürmen und sich ihre Aggression gegen die eigene Mannschaft richtet, das hat es in diesem Ausmaß noch nicht gegeben", sagt Gunter A. Pilz. Der Soziologe lehrt an der Universität Hannover und hat sich auf die Erforschung von Gewalt und Fanverhalten im Sport spezialisiert. Pilz hat kürzlich für den Europarat eine Studie über Ultras verfasst und ist seit 2006 Berater des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in Gewaltpräventionsfragen. Der Wissenschaftler hat eine Marktlücke gefunden. Wenn es im deutschen Sport zu Ausschreitungen kommt, kann er sicher sein, dass sein Handy klingelt und Funktionäre und Politiker nach Lösungen fragen.

Der 65-Jährige erklärt, warum ihn die Bilder aus Berlin so beunruhigen. Sie sind für ihn Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins einer kleinen Gruppe innerhalb der Ultra-Szene, für die nicht das Anfeuern der Mannschaft der Grund für einen Stadionbesuch ist, sondern die Aggression gegen andere Fans, die Polizei - und zunehmend gegen den eigenen Verein.

"Vor zehn Jahren wäre diese Gewalt gegen die eigene Mannschaft nicht aufgetreten", sagt Pilz und führt Stuttgart als weiteres Beispiel dieser Entwicklung an. Im Dezember sagte der beim VfB entlassene Trainer Markus Babbel: "Solche Szenen habe ich noch nicht erlebt. Selbst die so genannten Fußball-Millionäre haben es nicht verdient, dass ihnen ein solcher Hass und sogar Mordgesten entgegengebracht werden." In Nürnberg erhielt Manager Martin Bader Morddrohungen und von der Polizei den Hinweis, sein Haus vorübergehend nicht zu verlassen.

Pilz ist nicht der Einzige, der diese Entwicklung beobachtet. Volker Goll von der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) spricht von einem "Tabubruch". Auch Goll irritiert vor allem die Aggression der Anhänger gegen die eigene Mannschaft. Er konstatiert bei zahlreichen leidenschaftlichen Fans eine Art schizophrene Identifikation.

"In der Bundesliga gibt es die Kuschelklubs von früher nicht mehr. Die Vereine werden als reine Wirtschaftsunternehmen gesehen, und nicht nur den Ultras ist es zunehmend egal, ob diese Firmen Geldstrafen für Vergehen auf den Tribünen bezahlen müssen." Gleichzeitig würden viele dieser Anhänger Misserfolge ihrer Mannschaft als fast existentielle Bedrohung auffassen und extremer reagieren als noch vor einigen Jahren. "Heute gehört der Spruch ,Wenn ihr absteigt, schlagen wir Euch tot' leider auch in der Bundesliga zum Standardrepertoire", sagt Goll.

Fanexperten betonen, dass den Anfängen dieser Entwicklung präventiv begegnet werden müsse, am wirkungsvollsten mit dem Ausbau von Fanprojekten, der gezielten Kommunikation zwischen Verbänden, Vereinen und Anhängern. 90 hauptamtliche Mitarbeiter sind in den bundesweit agierenden 47 Fanprojekten beschäftigt, die die KOS von der ersten bis in die fünfte Liga koordiniert. "Jeder einzelne kann bestätigen, dass Repression langfristig der falsche Weg ist, um gegen diese Fans vorzugehen", sagt Goll, der auch nichts davon hält, Gästefans auszusperren, was nach den Berliner Vorfällen wiederholt gefordert wurde. "So werden Fronten aufgebaut, und die Gewaltbereitschaft einiger weniger Fans greift auf andere über."

Goll selbst ist Anhänger von Kickers Offenbach, drückt aber auch die Daumen, wenn in der Bundesliga am diesem Freitag der 1.FC Köln gegen Borussia Mönchengladbach antritt. Er hofft nicht auf den Sieg einer Mannschaft, sondern auf einen friedlichen Verlauf der Partie, die als Risikospiel eingestuft ist. "Ausschreitungen an diesem Spieltag", sagt Goll, "wären Gift für die nötige sachliche Debatte."

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