Mit der Profikarriere wird es nichts mehr, das weiß Lena. Aber vom Aufstieg träumt die 15-jährige Fußballerin schon, warum auch nicht? Mit dem neuen Trainer gelingen Siege in Serie, er sieht ihr Talent und macht sie zur Kapitänin. Lena fühlt sich gesehen, aber merkt auch, wie der Neue Grenzen überschreitet: Wenn er nachts komische Nachrichten schickt, im Trainingslager den Alkohol auspackt, plötzlich in der Kabine auftaucht, während sie und ihre Freundinnen sich umziehen. Wenn er anfängt, die Spielerinnen zu massieren. Machen die Profis schließlich auch so, sagt er.
Lena ist die Figur, die sich Martin Schäuble für seinen Roman „Warum du schweigst“ (Fischer Sauerländer, 240 Seiten) ausgedacht hat. Sie könnte auch eine von vielen sein, die täglich ihrem Hobby nachgehen: Fast jedes zweite Kind ist in Deutschland in einem Sportverein angemeldet. Doch nicht immer ist der Sport der Schutzraum, der er sein sollte.
Lena, deren Geschichte auf Erlebnissen von Betroffenen beruht, wird später von ihrem Trainer vergewaltigt. Andere Spielerinnen beschweren sich beim Vereinsvorstand, der aber erst eingreift, als ein Mädchen den Trainer anzeigen will. Typische Strukturen, die Gerichte in der Realität immer wieder so zutage fördern, im Handball, Schwimmen, Turnen. Sie waren auch Anlass für Schäuble, sich dem Thema zu widmen, dem Schweigen Worte zu verleihen. Vorgestellt wurde sein Buch am Dienstag in Berlin nicht zufällig in den Räumen der unabhängigen Anlaufstelle für Safe Sport: Die Aufarbeitung von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt in Sportvereinen wird in den vergangenen Jahren zunehmend vorangetrieben.
Schäubles Geschichte spielt im Breitensport und verdeutlicht so auch die reale Dimension des Problems: 19 Prozent der deutschen Vereinsmitglieder haben laut einer Studie der Wissenschaftlerin Bettina Rulofs von der Deutschen Sporthochschule Köln sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt erfahren, Hunderttausende sind es jedes Jahr. Schutzmechanismen greifen in den Vereinen meist nicht. Dafür große Ängste, mit dem Thema in Verbindung gebracht zu werden. Das hat auch Martin Schäuble gemerkt: Ein Dutzend Vereine hat er für seine Recherchen angefragt, um mit Trainern zu sprechen. „Sie haben alle abgesagt“, erzählt er, „ich fand es schon komisch, es macht ja ein bisschen verdächtig.“ Noch immer wird das Thema als Tabu begriffen. Drei Trainerinnen hätten sich schließlich bei ihm gemeldet und sich damit gegen den Willen der eigenen Vereinsvorstände durchgesetzt, weil sie die Auseinandersetzung mit Gewalt im Sport wichtig finden.
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Für die Geschichte hat Schäuble mit mehreren Betroffenen gesprochen: „Es sind viele wahre Geschichten, aus denen ein fiktionaler Text entstanden ist.“ Bei der Vorstellung des Buches war eine der Betroffenen dabei: Ulrike Breitbach, ehemalige Leichtathletin, die vor 25 Jahren Missbrauch im Sport erlebte – und erst viel später darüber reden konnte. „Ich konnte so lange nicht sagen: ‚Das ist passiert.‘ Weil es nicht sein durfte. Das bedeutet ja auch wieder Macht für den Täter“, sagt sie. Zumal sexualisierte Gewalt weit vor der Vergewaltigung anfängt. Martin Schäuble schafft es in seinem Buch, dem Leser dieses ungute Bauchgefühl zu vermitteln: Wenn der Trainer plötzlich Lenas Hand nimmt, den Arm um die Spielerinnen legt, sie unter ihren Trikots massiert. Lena merkt, dass sie das nicht gut findet, sagt aber nichts. Genauso hat sich Ulrike Breitbach früher oft gefragt: „Darf ich es jetzt doof finden oder nicht? Das Gefühl, das man hat, wird infrage gestellt. Ich habe oft gehört: ‚Stell dich nicht so an.‘“
Viele Arten von Übergriffen finden nicht im Verborgenen statt, „sondern vor ganz vielen Augen“, sagt Schäuble. Die Annäherungen bekommen alle im Team mit, auch die Eltern. Generell seien die „oft dankbar, dass sich jemand um die Kinder kümmert“, sagt Schäuble. Er glaubt, dass auch deswegen oft nicht so genau hingeschaut wird. Oder ein Bauchgefühl schnell weggewischt wird, wenn doch mal etwas verdächtig erscheint. Was mitunter in ländlichen Strukturen stärker ausgeprägt sei als in Großstädten: „Dort gibt es oft nur den einen Verein. Und wenn dir da etwas nicht passt, dann kannst du nicht zu einem anderen gehen, du musst mit dem Sport aufhören.“ Im Buch schleicht sich der Trainer auch in Lenas Familie ein, nähert sich der alleinerziehenden Mutter, bietet ihr finanzielle Unterstützung an. Immer verbunden mit dem Satz: „Wir im Verein sind doch eine Familie.“ Und die Familie verdächtigt man schließlich nicht.
Missbrauchserfahrungen von damals und heute sind oft beängstigend ähnlich
Erzählt wird die Geschichte aus drei Perspektiven: aus der von Lena, des Vereinsvorsitzenden und von Lenas Freund Tim, der oft nicht versteht, was mit Lena los ist. Auch in der Realität sind die Angehörigen der Betroffenen oft mit einer Ohnmacht konfrontiert. „Es ist kaum möglich, eine normale Beziehung zu führen“, sagt Breitbach. Dass ihre Erfahrungen, die über zwei Jahrzehnte zurückliegen, mit den Aussagen jüngerer Betroffener fast identisch waren, hat Martin Schäuble beim Schreiben oft fassungslos gemacht. „Es sind immer noch die alten Männerstrukturen, das hat mir Angst gemacht“, sagt er.
Eine positive Veränderung hat Breitbach über die Jahre festgestellt: Es wird mehr über das Thema der physischen, psychischen und sexualisierten Gewalt geredet, sich mit Betroffenen auszutauschen hat ihr auch bei der Verarbeitung geholfen. Nicht zuletzt ist auch die Ansprechstelle Safe Sport (Telefon: 0800 11 222 00, www.ansprechstelle-safe-sport.de) aus dem Diskurs entstanden. Und auch an einem Zentrum für Safe Sport, dessen Gründung im Koalitionsvertrag verankert ist, wird weiter gearbeitet. Um Machtstrukturen aufzubrechen, die Gewalt begünstigen, wird es aber noch mehr Anstrengungen benötigen. Im Buch wird der Trainer schließlich vom Vorstand gebeten, den Verein zu verlassen, er bekommt noch lobende Worte mit auf den Weg. Ein Fall, der sich in Bayern genauso zugetragen hat, sagt Schäuble.