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Gesichtsverletzungen im Fußball:Als wären die Klitschkos im Stadion

Ballack, Huntelaar, Subotic, Tiffert, Bender, jetzt Kehl: Fast jede Woche zieht sich ein Bundesliga-Profi eine schwere Gesichtsverletzung zu. Die DFB-Ärzte glauben noch nicht an einen Trend, sind sich der möglichen Ursache jedoch bewusst: Der moderne Fußball wird immer schneller - und damit auch schwerer zu kontrollieren.

Carsten Eberts

"Erst mal die gute Nachricht", schrieb Sebastian Kehl auf seinem Facebook-Account: "Es ist nichts gebrochen und auch das Auge ist soweit ok." Die Schlechte jedoch: "Ich seh aus wie nach einem Kampf gegen beide Klitschkos gleichzeitig."

Dieses Bild hatte der Dortmunder Kapitän findig gewählt, das Zitat schaffte es in die Texte sämtlicher Nachrichtenagenturen - und Kehl sah wirklich schlimm aus. Im Champions-League-Spiel gegen Olympique Marseille war Kehl mit Stéphane Mbia zusammengerauscht, Mbia traf Kehl mit dem Fuß am Kopf, der Dortmunder blutete stark, die Sanitäter eilten herbei, Kehl musste vom Platz. Der erste Verdacht, eine schwere Gesichtsfraktur, bestätigte sich jedoch nicht.

Um in Kehls Bildsprache zu bleiben: Es scheint, als seien die Klitschko-Brüder derzeit häufiger in deutschen Stadien unterwegs. Fast im Wochenrhythmus verletzen sich Profis im Gesicht, oft verlaufen die Zwischenfälle weniger glimpflich als bei Kehl. Seit Anfang November zählen die Chefstatistiker zwei Nasenbeinbrüche (Michael Ballack, Klaas-Jan Huntelaar), einen Mittelgesichtsbruch (Neven Subotic) und einen doppelten Kieferbruch (Sven Bender).

Zählt man Kehls Beinahe-Fraktur vom Dienstagabend und die heftige Platzwunde von Christian Tiffert hinzu, der Ende Oktober noch auf dem Platz genäht werden musste, sind dies sechs Fälle in sechs Wochen. Auffällig ist, dass stets kräftiger Gegnerkontakt im Spiel war - ob beabsichtigt oder nicht. Ist dies nun ein Trend? Oder nicht?

Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) will man die Angelegenheit nicht dramatisieren. "Wir erleben derzeit einige Fälle. Einen direkten Trend würde ich daraus jedoch nicht ableiten", sagt Josef Schmitt, 67. Er ist seit 1982 als Orthopäde für den DFB tätig, begleitet zusammen mit den Ärztekollegen Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt und Tim Meyer die Nationalmannschaft bei ihren Spielen.

Schmitt arbeitete früher als Fach- und Chefarzt, leitete bis 2008 das Krankenhaus in Bergisch Gladbach. Er sagt: "Wir wissen seit Jahren, dass Gesichtsverletzungen zunehmen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass das Spiel schneller und dadurch die Aktionen möglicherweise unkontrollierter geworden sind." Häufen sich die Verletzungen auch noch bis Hinrundenende, muss wohl doch von einem Trend gesprochen werden.

Kopfverletzungen gab es in der Bundesliga schon immer. Man muss sich nicht gerade zum tausendsten Mal das Turban-Tor von Dieter Hoeneß im DFB-Pokal-Finale 1982 ins Gedächtnis rufen: Es sei nur erinnert an Zeiten, in denen sich absichtliche Ellenbogenschläge derart häuften, dass eine Regeländerung nötig war. Seitdem sind die Schiedsrichter angehalten, brutale Aktionen mit dem Ellenbogen mit Platzverweis zu bestrafen.

Trotzdem ist der Fußball in den vergangenen Jahren physischer geworden. Nicht nur im Schnelligkeitsbereich, weshalb Spieler über 90 Minuten rennen, sprinten und Pressing spielen können. Auch im Kraftbereich: Rumpfkräftigende Übungen sind im Trainingsprozess integriert, die Spieler sind deutlich robuster als noch vor zehn Jahren. Die Vehemenz, mit der sich etwa Sebastian Kehl vor dem Foul seinem Gegenspieler entgegenstellte, ist ein Produkt dieser Entwicklung. Mit ihrer Spielweise nehmen die Profis schmerzhafte Zwischenfälle in Kauf.

Wenn es zum frontalen Körperkontakt kommt, ist der Gesichtsbereich ein höchst sensibles Gebiet. "Gerade der Bereich unter dem Auge sowie der Boden der Augenhöhle ist bruchgefährdet", erklärt DFB-Arzt Schmitt. Bei Ballack, Huntelaar und Bender waren dies unglückliche Zwischenfälle, bei Subotic und Kehl konnten die Gegner vom Vorsatz nicht freigesprochen werden. Wie auch immer: Im Gesicht der Spieler brachen Knochen oder wurden heftigst geprellt, was ihnen schmerzhafte Wochen bereitet.

Auf der kommenden Bundesliga-Ärztetagung im Januar dürften Gesichtsverletzungen erneut Thema werden, wie bereits vor einem Jahr. Fachärzte berichten dann, welche Gesichtsfrakturen konservativ oder operativ behandelt werden müssen - und was es Neues aus dem Bereich der Gesichtsmasken gibt. Die sind zwar technisch auf dem neuesten Stand, werden aus kräftigen Karbonfasern gefertigt und je nach Frakturtyp sensibel dem jeweiligen Gesicht angepasst. Das Blickfeld der Spieler schränken sie jedoch immer noch ein.

Auch am kommenden Bundesliga-Wochenende werden mindestens zwei dieser Masken zu sehen sein: vor den Gesichtern von Michael Ballack und Klaas-Jan Huntelaar. Sie haben vor allem den Nutzen, dass sie den Spielern ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Vor einem neuerlichen Knochenbruch schützen jedoch auch die Masken nicht - falls die Klitschkos mal wieder in den Stadien vorbeischauen.

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