Zum 75. Geburtstag von Gerd Müller:Er wollte jedes einzelne Tor

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Okay, dieses Tor war vielleicht doch ein bisschen wichtiger als seine hunderttausend anderen: Gerd Müller nach dem WM-Finale 1974. (Foto: imago/WEREK)

Ob gegen Zypern oder den FC Pflaumloch: Gerd Müller war jeder Treffer so lieb wie ein Tor im WM-Finale. Sein 75. Geburtstag ist ein trauriger.

Von Christof Kneer

Es muss der 10. Juli 1964 gewesen sein. Es war der Tag, an dem Gerd Müller, ein 18-jähriger Bua aus dem bayerisch-schwäbischen Ort Nördlingen, einen Vertrag beim FC Bayern unterschrieb. Anlässlich seines 60. Geburtstags im Jahr 2005 hat Gerd Müller die Geschichte dieses Tages mal in einem SZ-Interview erzählt, die Geschichte gehört unter vielen guten Gerd-Müller-Geschichten zu den besonders guten. Jedenfalls findet Gerd Müller das. Er hat sie mit enormem Amüsement erzählt, obwohl er die Pointe schon kannte.

Die Geschichte: Am Tag von Müllers Vertragsunterschrift in München spielte die Firma, für die Gerd Müller in Nördlingen arbeitete, gegen eine andere Firma, Betriebsfußball, immer eine todernste Sache. Müllers Firma war natürlich stolz, dass ihr Betriebsmittelstürmer einen Profivertrag in der großen Stadt unterschreiben durfte, aber musste das ausgerechnet am Tag des großen Betriebsduells sein?

Hören wir kurz bei Gerd Müller rein, so, wie er das 2005 selbst erzählt hat: "Ein Freund hat mich nach der Unterschrift in München zurückgefahren, aber da war zwischen Augsburg und Nördlingen eine Bundeswehrkolonne, und wir konnten nicht überholen. Die Leute in Nördlingen haben sich schon lustig gemacht: Der Müller, der kommt doch gar nicht. Als ich mit Verspätung doch noch gekommen bin, sind die plötzlich ganz ruhig geworden."

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Auf dem Feld ahnte Gerd Müller immer, wo das Tor steht, abseits des Rasens wusste er nicht immer genau, wohin mit sich. Bilder eines Menschen, der sich im Strafraum so geborgen fühlte wie kaum einer vor ihm.

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An dieser Stelle noch mal fürs Firmenprotokoll: Als Müller am Sportplatz ankam, stand es 1:0 für die anderen. Als das Spiel eine Stunde später vorbei war, hatte Müllers Mannschaft 4:1 gewonnen.

Durch vier Tore von Gerd Müller.

Müller war kein einziges Tor zu klein

Es gibt natürlich keine Bilder von diesem Spiel, und vermutlich ist auch kein Archiv so verrückt, dass es Spielberichte vom bayerisch-schwäbischen Betriebsfußball aus den Sechzigerjahren hortet. Aber manchmal braucht man die Wirklichkeit gar nicht gedruckt, man kann von vergleichbaren Wirklichkeiten auf sie schließen. Man weiß ja eh, wie das läuft. Irgendwann steht es 3:1, und die führende Mannschaft wird etwas vorsichtiger, sie will, wie das in der Fachsprache heißt, nichts mehr anbrennen lassen. Aber dem Gerd Müller vorne drin ist das völlig wurscht, nichts anbrennen lassen, so ein Schmarrn. Er will unbedingt noch das 4:1 schießen.

Augenzeugen erinnern sich, dass es Jahre später ein Freundschaftsspiel in Pflaumloch gab, das liegt im östlichsten Baden-Württemberg, ein paar Kilometer von Müllers bayerischem Heimatort Nördlingen entfernt. Der FC Bayern war in fast voller Pracht erschienen, Beckenbauer spielte, Sepp Maier, Bulle Roth, natürlich Gerd Müller. Ein paar Minuten vor Ende des Spiels orientierte sich Beckenbauer unauffällig Richtung Seitenlinie, er wollte einen guten Platz, um bei Ertönen des Schlusspfiffs an allen Autogrammjägern vorbei in den sicheren Bus flüchten zu können. In der Nähe seiner Seitenlinie sah Beckenbauer dann, wie Gerd Müller vorne immer noch Tore schoss, noch eines, und noch eines.

Vielleicht sind die Tore auch deshalb immer zu Gerd Müller gekommen: Weil er sie alle respektiert hat, unabhängig von Herkunft und Bildung, weil ihm kein einziges dieser Tore zu klein war. Er hat sich für keines dieser Tore geniert, nie war eines unter seiner Würde. Müller wollte jedes einzelne Tor, das 12:0 gegen Zypern oder gegen den FC Pflaumloch oder gegen die andere Betriebsmannschaft aus Nördlingen. Für ihn waren das einfach alles Tore, Gerd Müller gelang es, sie von ihrem Anlass zu befreien. Sie machten alle bumm, und sie rochen und schmeckten für ihn kaum anders als ein Tor im WM-Finale 1974.

War das naiv? Falsche Frage. Es war einfach Gerd Müller.

Viele der alten und mittelalten Helden haben in diesen Tagen Geburtstag, Pelé ist gerade 80 geworden, Diego Maradona 60, Gerd Müller wird an diesem Dienstag 75. Diese illustre Gesellschaft ist nicht zu groß für ihn, auch wenn Gerd Müller nie ein Solo über 60 Meter gemacht hat, wahrscheinlich nicht mal gegen Pflaumloch. Aber wenn man die gute alte und herrlich sinnlose Frage nach dem besten Spieler der Geschichte stellt, dann muss man sich nicht schämen, wenn man auf der Suche nach einer Antwort den Namen "Gerd Müller" zumindest mal mitdenkt.

Im Grunde ist Müller das, was sich der Erfinder des Fußballs bei seiner Erfindung gedacht hat. Geht es in diesem Spiel nicht darum, Tore zu schießen? Falls ja, dann ist Gerd Müller der Sinn des Spiels.

Sollte der Sinn des Spiels allerdings darin bestehen, ein Tor mehr zu schießen als der Gegner, dann wäre man bei Gerd Müller vielleicht doch an der falschen Adresse. Ein Tor mehr, das hat ihm nie gefallen. Er wollte noch ein Tor mehr und noch ein Tor mehr. Vielleicht ist Gerd Müller doch eher der erweiterte Sinn des Spiels.

In einer Mischung aus Koketterie und heiligem Ernst hat Franz Beckenbauer immer wieder betont, nicht er sei der wichtigste Spieler in der FC-Bayern-Geschichte, sondern Gerd Müller. Auf Müllers Toren ist der FC Bayern erbaut, sie waren das Fundament für alles, was kam und bis heute kommt. Und auch wenn Daten im Fußball manchmal die falsche Geschichte erzählen, bei Gerd Müller ist es die richtige.

62 Länderspiele: 68 Tore. 427 Bundesligaspiele: 365 Tore. Und, auch das: 47 Tore in 28 Spielen in der Bezirksliga Schwaben für den TSV Nördlingen, als 17-Jähriger.

Gerd Müller konnte auch verteidigen, wenn es sein musste

Dennoch wäre es ein historischer Fehler, Müller nur auf den Torschuss zu reduzieren oder auf die legendäre kleine Drehbewegung mit dem Hintern, mit der er seine Gegenspieler gerne aus dem Bild schob.

Wenn es sein musste - und darauf hat er immer Wert gelegt -, konnte Gerd Müller auch im Mittelfeld spielen oder auch mal verteidigen. Aber zum Glück für den deutschen Fußball musste es selten sein.

Der sehr große Gerd Müller feiert einen sehr traurigen 75. Geburtstag an diesem Dienstag. In der Branche und sowieso beim FC Bayern weiß man seit Jahren, wie schlecht es ihm geht, seine Frau Uschi hat anlässlich des Geburtstags in der Bild-Zeitung noch mal ein paar Sätze gesagt. "Der Gerd schläft seinem Ende entgegen", sagte sie über ihren demenzkranken Ehemann etwa. Sie hoffe, dass er "nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über eine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt". Gerd Müller lebt seit fast sechs Jahren in einem Pflegeheim südlich von München.

© SZ vom 03.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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