Süddeutsche Zeitung

Gerd Müller:Die Legende des Bum

Trainer Cajkovski klagt: "Diese Figur, unmöglisch!" Später nennt man ihn Bomber - doch Müller ist der größte Held der kleinen Tore. Von Hans Eibele

Im Bücherschrank reihen sich Biografien: Uwe Seeler, Lothar Matthäus, Günter Netzer, Wolfgang Overath, Sepp Maier, sowieso von Franz Beckenbauer, mehrere. Aber keine von Gerd Müller - warum?

Das Reden, sagt Müller, habe er anderen überlassen. Das Schreiben haben andere auch anderen überlassen. Es hat sich aber keiner gefunden für die "Gerd Müller Story". Die gibt es bloß auf Kassette, produziert vom ehemaligen Torhüter Manfred Müller. Müller zahlte Müller fünf Mark Tantiemen pro Stück, später doppelt so viel, als der Gerd dringend Geld brauchte.

Sagen Zahlen mehr als Worte? 68 Tore in 62 Länderspielen; Jürgen Klinsmann benötigte 108 für 47 Treffer. 365 Tore in 427 Bundesligaspielen. Klaus Fischer, der Zweitbeste: bloß 268 Tore. Siebenmal Torschützenkönig, 70/71 40 Tore, Rekord. Elfmal vier und mehr Tore in einem Spiel. WM: 1970 zehn Tore, 1974 vier. Das letzte Tor war das wichtigste, zum finalen Sieg über die Niederlande.

Im Gerd-Müller-Buch würden wir lesen, wie er angefangen hat: in Nördlingen, mit 14 als Arbeiter in der Weberei, als 16-Jähriger 198-mal ins Tor getroffen in einer Spielzeit. Er war 19, als Trainer Tschik Cajkovski beim FC Bayern in München die Hände über dem Kopf zusammenschlug und fragte: "Was soll ich mit diese Junge, diese Figur, unmöglisch." 1,76 Meter, 80 Kilo, gewaltige Oberschenkel, kurzer Rumpf, rudernde Arme. Müller verdiente sich ein Zubrot als Möbelpacker. Für Hans Schiefele, damals Fußballredakteur der SZ, schleppte Müller einen Schrank bis zum vierten Stock hoch. Schiefele gab ihm fünf Mark Trinkgeld. Präsident Wilhelm Neudecker sprach ein Machtwort: Cajkovski musste Müller aufstellen.

"Bomber" ist die falsche Bezeichnung für Müller

Ein Kapitel des Buchs müsste überschrieben sein: Als es "bum" machte. Müller sang 1969 auf Schallplatte: "Dann macht es bum, ja und dann kracht's, und alles ruft, der Müller macht's." Auf dem Cover trug er Hermelin, Krone, Zepter und Fußball. Er war Europacupgewinner im Wettbewerb der Pokalsieger 1967, Nationalspieler seit 1966, hatte in seinem zweiten Länderspiel gegen Albanien vier von sechs Toren geschossen. Dann die Bilderseiten: entscheidende Tore. Aber spektakuläre? Von Uwe Seeler gibt es ein Foto, wie er, im Hechtsprung, den Ball mit dem Kopf verfehlt und mit der Hacke trifft: Tor. Klaus Fischer war berühmt für seine Fallrückzieher, Horst Hrubesch das Kopfball-Ungeheuer.

Gerd Müller hieß der "Bomber". Falsch. Er war der Mann der unspektakulären Tore. Vertraute im Strafraumgetümmel seinem Instinkt, seinem Reaktionsvermögen, und auf seinen kongenialen Doppelpasspartner Franz Beckenbauer. Der hat das so beschrieben: "Wenn ich mit dem Ball von hinten kam, zitterten ihm schon die Oberschenkel." Und manchmal räumte Müller den Weg mit seinem Hinterteil frei. In ihrer Ratlosigkeit prägten Journalisten den Begriff "müllern". Gerd Müller rät den Stürmern noch heute: "Nicht einfach draufhauen, man muss den Ball auch mal schieben oder lupfen. Kleine Tore zählen auch."

In der Biografie würde gerätselt, weshalb Müller in der Nacht nach dem WM-Finale seine Frau den Rücktritt aus der Nationalelf verkünden ließ. Stress, kaum Zeit für Frau und Kind? Mag ja sein. Auf den Ruhm sei er nie scharf gewesen. Fußballer des Jahres? Gut und schön. Aber die Party danach machte ihm keinen Spaß. Er war ein Star, den es langweilte, sich feiern zu lassen.

Er war 28, er war ein weltweit einmaliger Spezialist, er liebte den Fußball leidenschaftlich. Fritz Walter feierte mit 36 sein Comeback, Uwe Seeler mit 33. Doch Müller versagte sich. Gewann mit dem FC Bayern noch zweimal den Europacup der Landesmeister und den Weltpokal. Er vermisste seinen in die USA emigrierten Zuspieler Beckenbauer, war aber 1978, gemeinsam mit Dieter Müller, ein letztes Mal erfolgreichster Schütze in der Bundesliga.

Ein anderes Kapitel des Müller-Buchs würde den Titel "Trauerspiel" tragen: Wie der FC Bayern, und mit ihm Kapitän Müller, in die Krise schlitterte. Das Angebot eines leistungsorientierten Vertrags beantwortete er mit der Ankündigung seines Rücktritts. Worauf Trainer Pal Csernai keine Rücksicht mehr nahm und ihn bei einem Spiel in Frankfurt auswechselte. 1979 war das. Müller ging in die US-Liga zu den Fort Lauderdale Strikers, wo er 1982 seine Karriere beendete.

Über seine Zeit als Fußballer in den USA sagte Müller: "Das halbe Jahr gearbeitet, das andere halbe in München gewohnt; alles lief bestens, solange ich gekickt habe. Nachher wurde es komplizierter." Wieder daheim in München, sei er sich "irgendwie verloren" vorgekommen. Er trank, "und keiner sagte was". Der FC Bayern half dem Mann, von dem Beckenbauer sagt, ihm verdanke der Klub seinen Aufstieg. Den Entzug brach Müller ab, er wollte sich selber helfen: "Ich kann ein sturer Hund sein." Alkohol ist für ihn seither tabu.

Mit sich un der Welt im Einklang

Als Jugendtrainer beim FC Bayern und Assistent von Hermann Gerland, der die Regionalligamannschaft betreut, hat er den Jungen seine Kassetten gezeigt. Aber lernen, sagt er, kann man das nicht. Obwohl es viel einfacher als seinerzeit sei, Tore zu schießen: kein Vorstopper, kein Libero, sondern eine Viererkette mit Lücken. Traumhaft.

Seeler war HSV-Präsident; sein in Bronze gegossener Fuß, vier Tonnen schwer, steht vor dem Stadion. Overath ist Präsident des 1. FC Köln. Beckenbauer ist Lichtgestalt und Legende in Personalunion.Netzer handelt mit Fußballrechten und kommentiert im Fernsehen. Reinhard Libuda ist tot. Gerd Müller ist nichts von alledem. Er lebt mit sich und der Welt im Einklang.

Oktober 2005. Er kommt vom Trainingsplatz. Grauer Bart, Brille, er ist schlank und geht leichtfüßig, trotz zweier künstlicher Hüftgelenke. Er schaut zufrieden aus. Seinen Vertrag mit dem FC Bayern hat er verlängert bis 2010. Dann ist er 65. Er sagt: "Dann gehe ich in Rente."

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