Es lief die dritte Spielminute, als von unaufmerksamen Zuschauern volle Aufmerksamkeit abverlangt wurde. Ein Fußballer, gekleidet in ein weißes Trikot mit roter Rückennummer, feuerte einen Schuss ins rechte Toreck ab, der Torwart konnte mit dem Fuß parieren. Dann ein Nachschuss von einem Fußballer im selben Outfit, wieder ein starker Reflex des Tormanns. Geschätzte drei Viertel der Zuschauer im Hamburger Volksparkstadion, auf ihren weißen Shirts prangte ein rotes Kreuz, ließen Jubelschreie los, wie man das eher nach Offensivaktionen oder nach Toren des eigenen Teams kennt. Die Spieler in den weißen Trikots waren aber die Tschechen. Und die weiße Menschenmenge mit roten Farbtupfern auf den Tribünen sympathisierte mit den Georgiern.
Unaufmerksame Zuschauer hätten da locker kurz durcheinanderkommen können, doch als die Verwechslungsgefahr erst mal gebannt war, schaffte die Szene gleich mal Klarheit für den Rest des Spiels. Die in Weiß gekleideten Tschechen sollten die Partie dominieren, sie waren es, die in beachtlicher Regelmäßigkeit vor dem gegnerischen Tor auftauchten. Die georgische Mannschaft, erschienen in ihren rot-schwarzen Auswärtstrikots, sollte am Mittwoch nicht nur eine Art Heimvorteil, sondern in Giorgi Mamardaschwili vom FC Valencia auch einen mal wieder herausragenden Torwart haben. Jener Mamardaschwili, 23, gilt als einer der begabtesten Schlussmänner überhaupt – und er hätte es fast geschafft, das gesamte Spiel in seinen Händen festzuhalten.

EM-Stimmung in Deutschland:Schland in Sicht
In München ist eine leuchtende Arche Noah gestrandet, in Düsseldorf bejubeln Fans frische Schokocroissants, in Köln springt ein Schotte nackt in den Rhein. Zugleich wird in Europa nicht nur um einen Pokal gekämpft. Beobachtungen aus der ersten EM-Woche.
Allerdings nur fast, denn nach exzellenter Darbietung wurde er dann doch überwunden, das Duell zwischen Georgien und Tschechien endete 1:1. Und es ist wohl keine allzu steile These: Ohne Mamardaschwili hätte dieses Spiel auch ganz, ganz anders ausgehen können, weil der Torwart stets zu Diensten war, sobald er gebraucht wurde: bei seiner Fuß-Handabwehrkombination nach drei Minuten, die auch deshalb keine leichte war, weil er sich einer waschechten Bayer-04-Kombination entgegenwerfen musste. Die Schüsse kamen von den Leverkusener Spielern Adem Hlozek und Patrik Schick. Und diese beiden sollten noch öfter Bekanntschaft mit den Riesenpranken des georgischen Fast-Zweimetermanns machen. Hlozek hatte es sogar vollbracht, ihn nach 22 Minuten zu überwinden, doch der Treffer wurde zurückgenommen: Er hatte Mamardaschwili angeschossen, von ihm prallte der Ball ins Gesicht des tschechischen Offensivmanns, daraufhin an dessen Arm und von dort ins Tor. Die Annullierung war die richtige Entscheidung.
Einen Konter hat Georgien noch – er wäre wohl eine Umdrehung zu viel gewesen
Die Tschechen hatten die Sache im Griff, sie kombinierten mitunter gefällig nach vorn, und auch bei ihrer Entscheidungsfindung im Angriffsdrittel begaben sie sich auf keine Irrfahrten. Die Georgier dagegen verstiegen sich auf Abwehrarbeit, ließen hinten aber deutlich mehr zu, als ihnen lieb gewesen sein dürfte. Nur sehr vereinzelt gelangen ihnen Entlastungsangriffe – doch die Aktion, die sie am formidabelsten hinbekamen, hätte entlastender kaum sein können: Spielmacher Chwitscha Kwarazchelia schlug einen indirekten Freistoß in den Strafraum, über Umwege landete der Ball bei Guram Kaschia, der einfach mal abzog – und der Ball landete daraufhin am ausgestreckten Arm des tschechischen Verteidigers Robin Hranac. Elfmeter.
Georges Mikautadze, Angreifer beim FC Metz, schnappte sich den Ball und drosch ihn mit einer Selbstgewissheit ins rechte Eck, die man sich erst mal trauen muss: 1:0, die Georgier gingen erstmals in ihrer EM-Geschichte in Führung (45.). Und im Volkspark brach eine derart laute Jubelarie aus, dass sie wohl auch das Nachmittagsprogramm in der Elbphilarmonie bereichert haben dürfte. Weil Mamardaschwili kurz darauf einen Schuss von Schick am Pfosten vorbei lenkte, blieb es bei diesem Spielstand: Die Tschechen hatten 13 Mal aufs Tor geschossen, die Georgier nur einmal – Fußball kann gnadenlos sein.
Aber irgendwann kehrt der Fußball immer auch zur statistischen Logik zurück, nicht immer in ein und demselben Spiel, manchmal aber schon. Die erdrückende Überlegenheit des tschechischen Teams konnte nicht mehr allein von Mamardaschwili übertüncht werden, obwohl er noch Chancen von Ladislav Krejci und Tschechiens Kapitän Tomas Soucek hatte vereiteln können. Und es hat wohl genau so einen Treffer gebraucht, um die imaginäre Schutzmauer vor der georgischen Torlinie zu überwinden: Nach einer Ecke sprang ein Kopfball des eingewechselten Ondrej Lingr an den Pfosten, der Abpraller landete an der Brust von Stürmer Schick, der den Ausgleich aus kurzer Distanz selbst dann nicht mehr hätte verhindern können, wenn er es gewollt hätte. 1:1, der Ball war aus tschechischer Sicht somit endlich im Tor untergebracht (59.).
Nach der 1:2-Niederlage im ersten Gruppenspiel gegen Portugal war ein Remis aber kein zufriedenstellendes Resultat für die Tschechen, und so versuchten sie es immer und immer weiter. Sie drückten die Georgier an deren Strafraum, die nur selten Expeditionen nach vorn schafften. Und wenn, dann blieben diese zumeist auf halber Strecke stecken. Lingr, Mojmir Chytil und einige andere Tschechen kamen noch in aussichtsreicher Position zu Abschlüssen, wobei angemerkt werden muss, dass die vermeintlich gute Aussicht schnell wieder eingetrübt wurde: Mamardaschwili hatte seine Hände und Füße überall, wo der Ball hinkam. Mit Spielende hatten die Tschechen 26 Mal aufs georgische Tor geschossen.
Während sich die tschechischen Fans vermutlich bereits mehr um den einzigen Angreifer sorgten, der Mamardaschwili hatte bezwingen können – Schick war kurz nach seinem Treffer humpelnd mit einer Wadenverletzung vom Feld gegangen und könnte erst einmal ausfallen –, da hätten die zahlreichen Tribünengäste in den weißen Shirts mit den roten Kreuzen um ein Haar sogar einen Sieg ihres Teams feiern können. Unmittelbar vor dem Schlusspfiff hatten die Georgier einen letzten Konter, drei Mann gegen einen tschechischen Verteidiger. Aber Saba Lobschanidse schoss aus guter Position drüber. Ein Siegtor im letzten Moment, das wäre aber wohl diese eine Umdrehung zu viel gewesen.