Gehirnerschütterung von Stefan Ustorf:Schlaflose Zukunft

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Körperbetonte Spielweise gehört beim Eishockey zum guten Ton (Foto: Bongarts/Getty Images)

Der Rücktritt des Eishockeyprofis Stefan Ustorf rückt ein sensibles Thema in den Mittelpunkt des Sports: Gehirnerschütterungen und ihre Auswirkungen. Ustorf sagt: "Ich spüre, wie nach und nach mein Körper auseinanderfällt." Die Deutsche Eishockey Liga begegnet dem Problem mit schärferen Pflichten für die Spieler. Doch die Wirkung ist fraglich.

Von Michael Neudecker

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Fünf Fragen, die Sache ist ganz einfach: Wer alle fünf Fragen richtig beantworten kann, darf weiterspielen, wer auch nur eine falsch beantwortet, muss sofort in die Kabine zu weiteren Untersuchungen, womöglich auch gleich ins Krankenhaus. So machen sie das in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) seit dieser Saison, wer heftig gecheckt wird oder auffällige Symptome zeigt, muss diesen Test bestehen, an der Bande, auf der Auswechselbank.

Der Test heißt "Pocket SCAT2", er beinhaltet auch einen Gleichgewichtsschnelltest und wurde vor ein paar Jahren vom Eishockey-Weltverband, dem Fußballweltverband Fifa und dem IOC entwickelt, als Reaktion auf ein Thema, das in den vergangenen Jahren zunehmend relevant wurde.

Es geht um Gehirnerschütterungen im Sport, vor allem in Amerika ist das ein großes und tragisches Thema, seit sich mehrere Football-Profis das Leben nahmen; einer hat sich gezielt ins Herz geschossen und im Abschiedsbrief darum gebeten, sein Gehirn möge obduziert werden, um zu beweisen, was Football mit einem machen kann.

Der Tag, an dem das Thema auch in Deutschland ankam, war ein Dienstag. Der 6. Dezember 2011, die Eisbären Berlin spielen damals zuhause gegen die Hannover Scorpions, sie verlieren 2:3, das erste Tor der Berliner bereitet Stefan Ustorf vor. Bald darauf wird Ustorf gecheckt, frontal, er schlägt mit dem Kopf auf dem Eis auf.

Seit dem 6. Dezember 2011 ist der Eishockeyspieler Stefan Ustorf kein Eishockeyspieler mehr, am Donnerstag nun gab Ustorf seinen Rücktritt bekannt, "eine Rückkehr ins Eishockey", sagte Ustorf, "ist für mich nicht mehr möglich." Neulich hat ihn jemand gefragt, wie es ihm gehe, da hat er geantwortet: "Ich spüre, wie nach und nach mein Körper auseinanderfällt."

Ende mit Schmerzen: Stefan Ustorf, verkündet 15 Monate nach seinem letzten Spiel seinen Rücktritt (Foto: dpa)

Stefan Ustorf ist jetzt 39, er hat mehr als 1200 Eishockeyspiele bestritten, für Washington, Berlin und andere, er war Nationalspieler, Kapitän, sechs Mal deutscher Meister, er hat nie etwas anderes gemacht als Eishockeyspielen, von ihm aus hätte das ewig so weitergehen können. Aber es geht für ihn schon lange nicht mehr um Eishockey. Sondern darum, ob er ein Leben führen kann, ein ganz normales Leben.

Die Geschichte von Stefan Ustorf ist eine dramatische; dass er seine Arme kaum heben kann, weil er in den Schultern eine Arthrose hat, und dass er demnächst seinen schiefen Kiefer operieren lassen muss, das ist noch sein geringstes Problem. Er hat am 6. Dezember 2011 ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, er kann nicht länger als eine Stunde lesen, weil sich im Kopf dann alles zu drehen beginnt, er hat Probleme, wenn er in einem Heimspiel der Eisbären auf der Tribüne sitzt und die Eisbären ein Tor schießen, weil er die laute Musik und die Lichtblitze in der Halle nicht erträgt, er schläft nie länger als fünf Stunden, mit Unterbrechungen, er probiert gerade das vierte Schlafmittel aus, keines schlug an bislang, und sein Arzt sagt, ohne Schlaf werde es ihm nie besser gehen.

Stefan Ustorf ist einer der wenigen prominenten Eishockeyspieler, die Deutschland hat, die Zeitungen haben viel berichtet damals über Ustorf und seine Geschichte. Hinzu kamen Fälle in Nordamerika, darunter die berühmtesten Vertreter dieses Sports, wie der kanadische Olympiaheld Sidney Crosby, der monatelang wegen einer Gehirnerschütterung ausfiel. Jetzt ist das Thema wieder präsent, in Deutschland wegen Ustorf, in Amerika, weil es wieder prominente Opfer gibt, die New York Times zählte kürzlich allein in der National Hockey League (NHL) elf Gehirnerschütterungen innerhalb von zwei Wochen.

Sportler sprechen nicht gerne über Verletzungen, über folgenschwere schon gar nicht, und deshalb, sagt Jörg von Ameln, ist das Thema erst durch die Zeitungsberichte in das Bewusstsein der Liga vorgedrungen. Jörg von Ameln ist der Leiter Spielbetrieb der DEL, er hat zuletzt viele Interviews zum Thema geführt. Er antwortet schon auf Fragen, die noch gar nicht gestellt sind, denn es gibt viel zu erzählen.

Vor der Saison haben sich die Mannschaftsärzte aller DEL-Klubs zu einer sogenannten "Medical Task Force" zusammengeschlossen, unter Vorsitz der Wolfsburger Klinikärzte Wolfgang Klein und Axel Gänsslen, und mit das Erste, was sie getan haben, war, eine 20-seitige Informationsborschüre zum Thema Gehirnscherschütterungen zu erstellen. 40 Prozent aller Collegespieler im Football erleiden jedes Jahr ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, das steht zum Beispiel in der Broschüre, dazu Symptombeschreibungen, Therapie, Diagnose, solche Sachen.

"Wir sind sensibilisiert auf das Thema", sagt Jörg von Ameln, seit dieser Saison gibt es außerdem nicht nur den verpflichtenden Schnelltest an der Bande, sondern auch einen ausführlichen, den jeder Spieler vor der Saison absolvieren muss, "sonst kriegt er keine Lizenz", sagt von Ameln. Zudem wurde ein externer Expertenkreis zusammengestellt, Ärzte aus England, den USA und der Berliner Charité sind darunter, die jederzeit von den Klubs kontaktiert werden können.

Eine seriöse Statistik, ob die Zahl der Gehirnerschütterungen zugenommen hat in den vergangenen Jahren, gibt es nicht, aber es gibt ein Gefühl, und "gefühlt", sagt von Ameln, "ist das mehr geworden". Warum, ist schwer zu sagen, aber Jörg von Ameln hat eine Theorie: Seit die DEL Stockfouls wie Haken konsequenter ahndet, hat das Spiel an Dynamik gewonnen, "früher sind die Spieler öfter mal rumgestanden und haben sich behakt", sagt von Ameln, "das gibt es jetzt kaum noch".

Jetzt steht keiner mehr, die Spieler rasen über das Eis, zumal die Athletik der Spieler kontinuierlich besser geworden ist. Durch das höhere Tempo hat die Heftigkeit der Aufpralle zugenommen, soweit die Theorie, aber natürlich ist das Thema viel zu komplex, um mit einer einfachen Theorie alles erklären zu können. Es gibt noch viele offene Fragen, zum Beispiel die, wie es nun weitergeht.

Der Nachwuchs müsste ebenfalls sensibilisiert werden, das ist Konsens, nicht alles lässt sich ja durch Strafen regeln. Eine Rolle spielt das Regelwerk aber schon, in Deutschland etwa ist Körperkontakt im Nachwuchs verboten, in Amerika erlaubt. Jörg von Ameln sagt, er erinnere sich an eine Sitzung des Weltverbandes in Toronto, wo diese kanadischen Trainer berichteten, sie hätten mehrere Jungs, die nicht mehr spielen könnten, weil sie schon mehrere Gehirnerschütterungen hatten. Die Trainer hätten fast geweint, sagt Jörg von Ameln, die Jungs waren ja erst 13.

© SZ vom 08.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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