50. Geburtstag von Paul Gascoigne:Als Gazza in Wembley zum Zahnarzt ging

Paul Gascoigne

Wie bei der Zahnwurzelbehandlung: Paul Gascoigne imitiert eine Szene, die sich mit den Kollegen in einem Nachtklub abgespielt haben soll.

(Foto: imago sportfotodienst)
  • An diesem Samstag wird der englische Ex-Fußballer Paul Gascoigne 50 Jahre alt.
  • Der einstige Held ist tief gestürzt, seine Alkoholexzesse haben ihn ruiniert.
  • Doch in Erinnerungen bleiben von ihm auch sportliche Momente - wie bei der WM 1990 oder der EM 1996.

Von Jonas Beckenkamp

Die Geschichte von Paul Gascoignes "battle with the bottle" wurde oft erzählt und natürlich ist sie ausreichend tragisch, um Mitleid mit diesem Mann zu haben. Kein Zweifel, Gascoigne ist ein Gescheiterter - vielleicht ist er sogar die traurigste Figur des britischen Sports. Wer aktuelle Bilder von "Gazza" sucht, findet im Netz reichlich Anschauungsmaterial: Gascoigne barfuß und orientierungslos im Bademantel vor einem Taxi, Gascoigne ausgemergelt und leichenblass, Gascoigne beim Seelenstriptease in einer Talkshow.

Bilder von einem, der mal ganz oben war und dann ganz unten aufgeprallt ist. Dass er es trotz akuter Alkoholprobleme bis zu seinem 50. Geburtstag an diesem Samstag geschafft hat, ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Es dürfte kein besonders schönes Leben sein, das er da fristet. Im Fernsehen sagte er kürzlich: "Dieses Jahr ist bislang das schlimmste meines Lebens". Sein Neffe war an einer Überdosis gestorben, er wurde in die Psychatrie eingewiesen und schleppe sich seither von Tag zu Tag. "I'm down, but I'm not out", er sei am Boden, aber er lebe noch.

Wer die Karriere dieses im Grunde genialen Fußballers nachzeichnet, kommt um zwei Momente nicht herum: Die WM 1990 in Italien und die Euro 1996 in England. Wie es um Gascoignes Hang zur Selbstzerstörung bestellt ist, zeigte sich schon damals, als die Insel ihn ihm das größte Talent seit George Best sah. Auch der Nordire Best genoss gerne ein paar Drinks zu viel, aber bei keinem kulminierte die Besoffenheit so sehr im Irrsinn wie bei "Gazza". Im 90er-Halbfinale gegen Deutschland kam es zu einer Szene, die das Wesen Gascoignes der Welt zur Schau stellte: Ein Foul brachte ihm die gelbe Karte ein und damit die Sperre für ein mögliches WM-Finale.

Für den besten Mann der Engländer brach alles auseinander. Gascoigne weinte wie ein kleiner Junge, sein Gesicht schwoll an vor Röte und niemand konnte ihn beruhigen. Ein Nervenkollaps vor laufenden Kameras, der Kollege Gary Lineker derart alarmierte, dass er mit einem Augenwischer in Richtung Trainerbank signalisierte: Wechselt "Gazza" aus, sonst kostet seine Unberechenbarkeit uns den Abend! Stolz, Patriotismus, Ego - all das überwog jedoch beim Mann aus Newcastle, er spielte weiter, tief getroffen und kaum noch in der Lage zu einem klaren Gedanken.

Immer wieder versuchte Gascoigne, seinen Frust in Pubs zu bekämpfen, was eine Weltkarriere ebenso verhinderte wie sein kaputtes Knie. 1991 riss ihm das Kreuzband, die fast einjährige Pause prägten Nachtclub-Exzesse und Streitereien bei seinem Wechsel zu Lazio Rom. Als sich der 1992 unter riesigem Getöse vollzog, trat er schließlich seinen ersten Arbeitstag ohne Schuhe an. Er hatte sie vergessen. Nur auf eines konnte sich Gascoigne verlassen: Wenn seine Knochen wollten, wenn er ausnahmsweise nüchtern war, konnte er fabelhaft Fußball spielen - so wie im Sommer 1996 bei der Heim-EM der Engländer.

Es war in vielerlei Hinsicht eine ungewöhnliche Phase auf der Insel: Selbst das englische Wetter spielte verrückt, es schien verblüffend oft die Sonne und nackte "lads" bevölkerten Wembley wie sonst nur Ibiza. Das Land befand sich im Rausch, weil Cool Britannia der Welt endlich wieder zeigen konnte, wer die besten Bands hervorbringt (Oasis und Blur). Weil mit Tony Blair ein jugendlicher Grinsebär Labour anführte und sich Richtung Downing Street aufmachte. Weil alle "Football's coming home" gröhlten. Weil Englands Nationalteam Gascoigne hatte.

Einen Verrückten, einen Tünnes, einen lebensbesoffenen, blondierten Grenzgänger. Und dieser Typ aus Newcastle machte gegen Schottland das Spiel seines Lebens.

Der berühmteste Torjubel des englischen Fußballs

England brauchte einen Sieg, um weiter zu kommen, doch als es in der 78. Minute Elfmeter für die Schotten gab, drohte ein düsteres Gewitter. Und wer weiß, was passierte wäre, wenn Gary McAllister, ein Baum von einem "Braveheart", nicht David Seamans Ellbogen getroffen hätte, sondern ins englische Tor. So aber rollte der Gegenangriff, die Engländer spielten Kick-and-Rush über ihre linke Seite um Darren Anderton und plötzlich stand da Gascoigne in der Nähe des schottischen Sechzehners. Es war der Augenblick, als die Götter beschlossen, "Gazza" eine Eingebung zu gönnen.

Er lupfte den Ball mit links über Schottlands Haudrauf Colin Hendry, rannte rechts an ihm vorbei und vollendete einen Akt des Größenwahns volley ins Netz. Wembley rastete aus, auf dem Feld kullerten die Spieler übereinander und es stand 2:0. Es war der Moment, als die alten Trinkbuddies Teddy Sheringham und Gascoigne neben dem Tor die wohl berühmteste Torfeier des Königreichs aufführten: den "dentist's chair" (siehe Bild zu Beginn des Artikels), eine Hommage ans Blödeln und die Sauferei.

Englands Fußballer zelebrierten zu dieser Zeit die Tatsache, dass sie den Fans in Sachen Nightlife ebenwürtig waren: Hinten räumte Tony Adams auf, ein bekennender Alkoholiker. Von der Bank kam Robbie Fowler, der mit dem "Kokainschnupf"-Jubel berühmt wurde und vorne tobten sich Sheringham und "Gazza" aus. Just von diesen beiden waren vor der EM Bilder aus einer Hotelbar in Hongkong aufgetaucht: Einer lehnte sich wie beim Zahnarzt sitzend zurück, der andere kippte ihm zwei Flaschen Schnaps ins Gesicht - man muss wohl von der Insel sein, um das zu mögen.

Das Reenactment dieser Szenen sah in Wembley vor, dass Sheringham dem am Boden liegenden Gascoigne beim Jubeln den Inhalt einer Trinkflasche in den Mund spritzte. Das feuchtfröhlichste Tor der Geschichte ging auch ohne Twitter und Facebook um die Welt, eine Legende war dem Rasen entschlüpft - und alle liebten "Gazza", den Erfinder dieser Schunkelnummer. Über das Tor sagte er Jahre später dem Magazin fourfourtwo: "Ich sah Colin Hendry seitlich auf mich zurennen, also dachte ich: lupfen! Und dann hab' ich einfach abgezogen. Das kann man niemandem beibringen, es war der reine Instinkt."

Vermutlich war das eine der präzisesten Aussagen in Gascoignes verschwurbeltem Leben: Es gibt im Fußball Dinge, die entstehen aus dem Moment. Die Magie einer Idee, einer Bewegung. Die richtige Idee im richtigen Moment. Timing. Technik. Klasse. All das hatte "Gazza" in diesen Sekunden. Hoffentlich findet er auch im echten Leben noch den entscheidenden Kniff.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes war zu lesen, "Gazza" habe im Elfmeterschießen 1990 Englands Tragödie besiegelt, indem er den Ball in die Wolken wuchtete. Tatsächlich aber war Chris Waddle der Unglücksschütze.

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