Touristenmassen lassen sich nicht immer so lenken, wie die Gastgeber sich das vorstellen. Das gilt besonders für angetrunkene Fußballfans in Feierlaune. Es gäbe viele Orte in Moskau, an denen sich gut feiern ließe vor den Spielen oder danach. Da fällt einem zuerst der GorkiPark ein; am Ufer der Moskwa ist Platz, frische Luft, Wasser und die Versorgung mit Bier und Burgern ist durch die vielen Buden sichergestellt. Man kann vom Luschniki-Stadion zu Fuß gemütlich rüberspazieren. Oder das Viertel rund um die Patriarchenteiche (eigentlich nur ein Teich), das voll ist mit Bars und Restaurants. Ähnlich das Viertel hinter dem Bolschoi-Theater.
Aber aus irgendeinem Grund hat sich zum Start der WM ausgerechnet die Nikolskaja-Straße zum Zentrum des Geschehens entwickelt. Vielleicht, weil sie die nächste Fußgängerzone in der Nähe des Roten Platzes ist. Und den Roten Platz wollen natürlich alle besuchen. Der Rote Platz ist Russland. Vielleicht auch wegen der vielen Lichtgirlanden, die die Stadt über der Straße aufgehängt hat und die sie in eine kitschige Märchenwelt verwandeln. Zusammen mit den teuren Granitplatten, die der Bürgermeister Sergej Sobjanin in den vergangenen Jahren überall verlegen ließ, wirkt das sehr sauber und modern, aber auch irgendwie unbelebt und steril. Jetzt beleben es immerhin die Touristen. Von der Nikolskaja-Straße jedenfalls kommen jetzt die Bilder von singenden Mexikanern, von tanzenden Argentiniern und schunkelnden Polen und von Russen, die sich mit allen verbrüdern. Das Gedränge ist groß, die Stimmung ist prächtig.
Dass sich in dieser Straße die russische Geschichte in allen ihren Widersprüchen drängt, auch mit ihren finstersten Seiten, fällt nur wenigen Besuchern auf. Natürlich, das Kaufhaus Gum ist weltbekannt und eine prächtige Kulisse für ein Selfie aus dem Herzen Moskaus. Das Saikonospaskij-Kloster auf Hausnummer 7 verkörpert jenes Russland der Kirchen und goldenen Kuppeln, das man aus den Reiseprospekten und Fernsehdokumentationen kennt. Es steht aber auch für Aufklärung und Bildung: Hier wurde im 17. Jahrhundert die erste Hochschule im Zarenreich gegründet. Hinter der Barock-Fassade von Haus Nummer 15 stand einmal die erste Druckerei des Landes. 1703 erschien hier, auf Anordnung von Peter dem Großen, die erste Zeitung in der russischen Geschichte. Das Haus Nummer 21 war einst die größte Apotheke Europas, während des Ersten Weltkrieges wurde von hier aus das ganze Land mit Medikamenten versorgt. Und während der Oktoberrevolution feuerten die Bolschewiki von der Nikolsjaka-Straße aus mit Kanonen auf den Kreml. Zum Gedenken daran hieß sie während der Sowjetzeit Straße des 25. Oktober.
Nur knapp 700 Meter ist die Straße lang. Sie führt schnurgerade vom Lubjanka-Platz zum Kreml. Von der Zentrale des Geheimdienstes ins Herz der Macht. Das Haus Nummer 23 ist schon seit einigen Jahren mit Stoffbahnen verhängt, auf die eine historische Fassade gedruckt wurde. Bis eine Entscheidung über eine Renovierung gefallen ist, soll das baufällige Gebäude nicht den Gesamteindruck der Flaniermeile stören. Es wirkt aber auch, als würde eine dunkle Vergangenheit verhüllt. Im Volk ist das Haus Nummer 23 als "Erschießungshaus" bekannt. In den Jahren des Großen Terrors unter Josef Stalin tagte hier das Militärkollegium des Obersten Gerichts der Sowjetunion. Im Schnellverfahren wurden hinter diesen Mauern in den Jahren 1935 bis 1950 mehr als 30 000 Todesurteile gefällt, die oft noch in der Nacht oder am nächsten Tag von Erschießungskommandos vollstreckt wurden: in den Kellern und Garagen rund um den Lubjanka-Platz, in den Wäldern vor der Stadt oder irgendwo draußen im Land.
Die Stadtverwaltung wollte das Gebäude eigentlich renovieren lassen und wie die anderen Häuser in der noblen Fußgängerzone an eine Handelskette vermieten. Aber der Widerstand der Moskauer Bürger war groß. Vor allem von der Organisation Memorial, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzt. Ein Museum oder ein Gedenkort will die Stadt wiederum nicht. So steht das Haus erst einmal weiter verhüllt da. Anders als bei vielen anderen historischen Gebäuden in der Straße erinnert noch nicht einmal eine Hinweistafel daran, was früher hier war. Für die Fans, die im Rummel auf der Nikolskaja-Straße feiern, ist es nur Teil der Kulisse im märchenhaften Licht von Millionen Leuchtdioden.