Zunächst schien nichts Besonderes zu passieren. Halvor Egner Granerud hat sich wie immer gleich nach dem Absprung nach vorne gelegt, die Ski und seinen Körper statt zum bremsenden V eher zu einer Art langem H geformt, das flach auf dem Luftkissen lag. Dass das linke hintere Ende dieser Stellung mal wieder leicht absackte und auf der anderen Seite sein rechter Arm von selber mal wieder nach außen scherte, womit Granerud typisch leicht nach rechts driftete - es war egal. Denn Granerud landete seinen gewaltigen Satz auch noch elegant im Schnee, worauf der Norweger wieder weit, weit vorne lag im Tournee-Ranking, uneinholbar auch an diesem Tag.
Danach setzte sich Granerud, ehe er den Auslauf verließ, noch einmal in den Schnee, verschränkte seine Springerbeine in den Schneidersitz, hob die Arme, fügte jeweils Daumen zu Zeigefinger und deutete eine Ultrakurzmeditation an. Vielleicht war dies nur übermütiger Quatsch, vielleicht wollte er dem Publikum auch etwas sagen. Jedenfalls freute sich der sonst grüblerische, eher wortkarge 26-Jährige offenbar unfassbar über diesen Tag.
Er hat die direkte Konkurrenz dieser zunächst außergewöhnlich favoritenreichen Tournee fürs Erste distanziert, vermutlich sogar schon entscheidend. 26,8 Punkte liegt der nächste Springer bereits zurück: Dawid Kubacki, der polnische Topakteur im bisherigen Winter, hatte abermals seinen Sprung nicht vollständig ausreizen können und haderte schon beim Aufkommen leicht mit seiner Darbietung. Anze Lanisek wiederum, der Slowene, hatte in der Bestenliste einen Sprung nach vorne gemacht, der vergleichbar war mit seinem echten im Schnee.
Sechs Plätze holte er mit einem Schlag auf. Aber er hat trotz des weiten Satzes nun 51,4 Punkte Rückstand auf den Spitzenreiter, Piotr Zyla, der Drittplatzierte, ist in der Gesamtliste mit 40,1 Punkten ebenfalls bereits abgeschlagen, von den folgenden Deutschen Karl Geiger (minus 57,6) und Andreas Wellinger (minus 57,8) nicht zu reden. Nein, Graneruds Kurzmeditation sollte eindeutig Entspannung bedeuten, innere Ausgeglichenheit und Stärke, wie anderweitig spekuliert wurde.
Die deutschen Springer von Bundestrainer Stefan Horngacher hatten nach diesem Tag tatsächlich etwas Entspannung nötig, Karl Geiger war enttäuscht, weil seine in Oberstdorf formidable Flugform plötzlich wieder ins Stocken geriet. "Wenn halt ein Sprung daneben geht, dann kann man schon raus sein", sagte er. In Garmisch-Partenkirchen waren weder Qualifikation noch K.-o.-Durchgang noch der entscheidende Sprung geeignet, um irgendwie die Spitze im Blick zu behalten. Und auch Andreas Wellinger verbesserte sich letztlich nicht, obwohl sein erster Sprung zunächst noch viel hoffen ließ.
Auf der Tournee kann jedem ein Fehler unterlaufen. Doch Granerud wirkt gefestigt
Horngacher sagte, nach Oberstdorf sei man noch euphorischer gewesen, "da dachten wir, wir haben den Rückstand aufgeholt". Stattdessen drehte der frische Wind wieder in eine andere Richtung, und die DSV-Springer müssen sich abermals neu orientieren. Mit der Enttäuschung hatte auch Stefan Kraft zu kämpfen, der Österreicher, der schon länger vor der Tournee zu den Gesamtsiegkandidaten zählte, nun aber mit knapp 75 Punkten Rückstand abermals keine Chance mehr hat.
Kraft war nach seiner Erkältung von Engelberg wohl doch noch geschwächt, auch in Garmisch-Partenkirchen konnte er dem Rückenwind nichts entgegensetzen, wieder sackte er zu früh ab, und dann, sagte er später, "kriegst du gar nicht so viele Windpunkte, weil der Wind auch von der Seite kam". Dennoch freute er sich auf die nächsten beiden Stationen in Innsbruck und Bischofshofen.
Auf der Tournee können die verrücktesten Dinge passieren, auch Halvor Egner Granerud unterläuft regelmäßig ein plötzlicher Fehler, entstehend aus irgendeinem Gedanken, der ihn plötzlich zu einer falschen Technik verleitet und zurückwirft. Möglich ist alles, nicht nur in Innsbruck, sondern auch noch in Bischofshofen. Tatsächlich aber hat Granerud ja auch an sich gearbeitet, er hat wohl seine verkopfte Art als nicht zielführend erkannt, hat viele Details an seinem Sprung optimiert - und er ist, anders als alle anderen Konkurrenten, pünktlich in Form gekommen. Mit dem ersten Sprung dieser Tournee, in der Qualifikation von Oberstdorf, hat er auf einmal überzeugt. Und mit diesem Sieg in Garmisch, wo er schon einmal mit einem achten Platz alle seine Tourneechancen vergeben hatte, ließ er nun vielleicht ein weiteres schlechtes Erlebnis hinter sich.
Manche Beobachter in Garmisch-Partenkirchen waren der Auffassung, Granerud habe ganz einfach seinen Landsmann und Fußballstürmer Erling Haaland nachgemacht, der ja auch gerne mit verschränkten Beinen jubelt, aber das ist doch unwahrscheinlich, viel zu kurz gedacht. Bestimmt wollte Halvor Egner Granerud nun etwas verkünden, nämlich dass er mit diesem Auftritt bei der zweiten Station der Tournee 22/23 seine Selbstzweifel und sein Grübeln hinter sich lassen und sich nun voll entspannen kann.