Süddeutsche Zeitung

Arne Gabius:Mit langem Atem

Arne Gabius hält den deutschen Marathonrekord und ist approbierter Arzt. Er hat eine klare Haltung, wie Hochleistungssport und Pandemien zusammenpassen - vor allem im Bezug auf Olympia.

Von Johannes Knuth

Irgendwie, findet der Ausdauerläufer Arne Gabius, sind es gerade auch gute Tage für seinen Sport. Natürlich nicht für den Lauftreff oder den Frühjahrsmarathon, wo das Coronavirus wunderbar von einem dampfenden Läufer zum nächsten wandern könnte. Aber das einsame Laufen mit etwas Abstand zum nächsten Spaziergänger, rund um die Weinberge in Stuttgart-Stammheim etwa, wo Gabius mit seiner Familie wohnt - "dabei gefährdet man niemanden", sagt er. Das moderate Auspowern räume nicht nur im Kopf auf, "nebenbei stärkt man auch sein Immunsystem", sagt Gabius. In jedem Fall sei es besser, als zu Hause zu hocken, trockene Raumluft zu inhalieren, die zu Erkältungen führen kann - und erst Recht zur Panik, ob man sich nicht doch Covid-19 eingefangen hat.

Ein Paar Laufschuhe und etwas Abstand, das ist gerade wohl die beste Betätigung in der Pandemie; auch unter den neuen Ausgangsbeschränkungen, die Bayern und andere Bundesländer gerade erlassen. Ohne Laufen, findet Gabius, "wird man ja sonst verrückt." Und bis zum Verrücktsein ist es in diesen Tagen ohnehin nicht weit.

Das IOC, findet Gabius, müsse "jetzt mal über seinen Schatten springen"

Arne Gabius ist seit Jahren das Gesicht der deutschen Ausdauerszene, er ist nationaler Rekordinhaber im Marathon mit seinen 2:08:33 Stunden aus dem Jahr 2015, und derzeit ist der 38-Jährige aus zwei Gründen ein interessanter Gesprächspartner. Erstens will Gabius unbedingt an einem olympischen Marathon mitwirken, der ihm in seiner Vita noch fehlt, und als Angehöriger des Berufsstandes der Leichtathleten ist er besonders stark von den Unsicherheiten betroffen, die die für diesen Juli veranschlagten Spiele mit jedem Tag heftiger umschwirren. Außerdem ist der 38-Jährige seit einer Weile approbierter Arzt; er hat eine klare Haltung dazu, wie das derzeit noch zusammenpassen kann: Hochleistungssport und Pandemien.

Gabius wollte seine Olympianorm am 19. April in Wien laufen, er war gut in Form, die Zeitvorgabe (2:11:30 Stunden) sollte für ihn kein Problem sein. Doch dann brachen nach und nach alle Läufe weg, in Wien und überhaupt. Und bis zur olympischen Meldefrist Ende Juni wird der Betrieb wohl kaum wiederaufgenommen. "Im Marathon könnten sie wohl die Qualifikationsregeln anpassen", sagt Gabius: Sie könnten auch Läufer nach Tokio bitten, die 2:13 oder 2:14 Stunden gelaufen sind, um das Starterfeld aufzufüllen - Gabius hätte achtbare 2:12:57 im Angebot, die er im vergangenen Herbst auf dem schweren Parcours in New York lief.

Viele seiner Kollegen aus den Stadiondisziplinen sind allerdings auf Wettkämpfe angewiesen, um ihre Normen bis Juni einzureichen und überhaupt in Form zu kommen - in Zeiten von Ausgangssperren und einem monatelangen Stillstand, auf den die Welt gerade zusteuert, ist das kaum noch denkbar. Der Leichtathletik-Weltverband hat im Vorjahr zwar eine Weltrangliste installiert, die trägt aber noch wenig Aussagekraft in sich, weil viele die dafür nötigen Punkte erst in diesem Sommer zusammentragen wollten. "Schon allein deshalb glaube ich, dass sie die Spiele verschieben müssen", sagte Gabius, "das ist einfach eine Frage der Fairness. Es würden sonst viele Athleten ausgebremst."

Gabius ist dafür bekannt, seine Anliegen forsch zu formulieren, er hat aber auch eine gewissenhafte, klare Seite, mit der er seinem Beruf nachgeht. Und so argumentiert er auch jetzt. Er verweist auf die verlegte Fußball-EM, die einst im Juli 2020 enden sollte - kurz vor der geplanten Olympiaeröffnung in Tokio - und die nur eine kontinentale Zusammenkunft ist. "Weltweit können wir noch weniger abschätzen, wie die Pandemie verläuft", sagt Gabius, "auf der Südhalbkugel beginnt gerade erst der Winter." Die Infektionswege werden da erst breitgetreten. "Viele Länder testen auch gar nicht richtig, so hältst du die Fallzahlen natürlich niedrig", sagt Gabius.

Auch Olympia-Gastgeber Japan war zuletzt mit diesem Vorwurf konfrontiert. Er glaubt jedenfalls, sagt Gabius, "dass das Virus schon stark verbreitet ist und sich noch weiter verbreiten wird". Und selbst wenn die Infektionskurve bis Mitte Juli abflachen sollte, und die halbe Welt in Tokio zusammenkommt, 11 000 Athleten, noch mehr Fans, Reporter, Funktionäre: "All diese Leute verteilen sich danach in der ganzen Welt", sagt Gabius, "da verteilt man das Virus natürlich wunderbar." Ein Impfstoff soll ja erst im Herbst verfügbar sein, wenn überhaupt. "Da kann man nicht Olympia Ende Juli ausrichten", findet Gabius: "Das ist viel zu früh".

Man könnte auch sagen: Der zeitliche Spielraum, den die Olympiamacher noch immer für sich beanspruchen, ist im Grunde längst aufgebraucht.

Man müsse 2020 wohl "als ein Jahr sehen, in dem der Sport ruht", sagt Gabius. Da müsse das Internationale Olympische Komitee "jetzt mal über seinen Schatten springen", die Spiele um ein Jahr verschieben, um allen mehr Zeit verschaffen, den Behörden, Athleten, auch dem Dopingkontrollsystem, das gerade zum Erliegen kommt. Den Athleten würde so viel Ungewissheit genommen; die griechische Stabhochspringerin Katerina Stefanidi hatte unter der Woche betont, wie unverantwortlich das sei: Dass das IOC am Juli 2020 festhalte, Athleten zum Training ermuntere, während Dekrete der Behörden sie zum Stillhalten zwingen, mal so, mal so.

So wächst derzeit täglich der Chor derer, die eine Vertagung der Spiele fordern, Speerwurf-Olympiasieger Thomas Röhler, Reiterin Isabell Werth, Turner Andreas Toba, Radfahrer Maximilian Schachmann, Boxerin Nadine Apetz, der einstige Schwimm-Olympiasieger Michael Groß. Der bereits für Tokio qualifizierte Fechter Max Hartung, Sprecher des unabhängigen deutschen Athletenvertretung, sagte am Samstagabend im ZDF-Sportstudio, er werde nicht an den Spielen teilnehmen, sollten die Ausrichter am ursprünglichen Termin festhalten. "Die Gesundheit hat oberste Priorität", assistierte auch Jürgen Kessing, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, bereits am Freitag, und grenzte sich so auch vom deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach ab.

Der nennt das weltweite Wohlergehen ja noch immer in einem Atemzug mit den olympischen Interessen. Bach gab jetzt in der New York Times zwar zu, dass das IOC auch alternative Szenarien erwäge. Wie diese aussehen, sagte er aber nicht. Er betonte lieber, dass die Spiele weiter in diesem Juli stattfinden könnten; eine komplette Absage stehe nicht zur Debatte, das sei man "den Athleten und der halben Welt, die bei den Spielen zuschaut" schuldig. Dabei liegt zumindest dieser Juli nicht mehr im Interesse vieler Sportler, im Dienst der Gesundheit ist er schon gar nicht. Der ehemalige DLV-Chef Clemens Prokop attestierte Bach zuletzt in der Stuttgarter Zeitung, "einfach dumm" zu agieren; Bach sei mit seinem Starrsinn als Krisenmanager "ungeeignet".

Man muss gerade jedenfalls oft an diese Strophe einer Rock 'n' Roll-Band denken, sie trägt den wunderschönen Namen "Everyone is dirty": "Ist es nicht toll, wenn Dinge auseinanderfallen? Dann sieht man, woraus sie gemacht sind."

Arne Gabius wird am Sonntag übrigens 39 Jahre alt, er hofft, dass ihn der lange Atem einer 23-jährigen Leistungssportkarriere auch durch die nächsten Monate tragen wird. Er verspüre schon eine "Unsicherheit", er finanziert sich über viele private Sponsoren, die ihn nach Leistung bezahlen oder für Vorträge einladen, bei denen er andere zum Laufen animiert - was zunehmend schwerer bis unmöglich ist in diesen Tagen. "Aber ich denke, wir müssen die nächste Zeit jetzt alle ein bisschen kürzertreten", sagt er. Er hat, nach einem kurzen Anflug von Demotivation, wieder Zuversicht gefasst, er kann ja erst mal weiter im Freien trainieren; mancher Stabhochspringer hat es da schwerer. "Als Sportler brauchst du immer einen Fahrplan", sagt Gabius, in seinem stehen noch immer die Olympischen Spiele. Allerdings jene im Sommer 2021.

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Quelle:
SZ vom 21.03.2020/schm
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