Fußballkneipen:Herzstillstand im Fußballmilieu

Lesezeit: 4 min

Fernando Guerrero, 54, im Eisen (Foto: Ralf Wiegand)

Es gibt Fußball, es gibt Kneipen, und es gibt Fußballkneipen. Aber nun hat die Gastronomie geschlossen, und der Fußball ist abgeschaltet: Ein Besuch im berühmten Werder-Lokal Eisen.

Reportage von Ralf Wiegand, Bremen

Und jetzt also das. Fernando Guerrero tritt zum verabredeten Zeitpunkt auf den schmalen Vorsprung zwischen Tür und Eisengitter, schließt erst das Eisengitter auf, tritt dann in die Tür zurück, wegen der Sache mit dem Sicherheitsabstand. Drinnen hat er extra die Heizung angeworfen für das Gespräch über die Abwesenheit von allem, was sonst hier wichtig ist. Die Regale hinter der Bar sind leer, die Spirituosen liegen eingelagert in der Kühlung, die Zapfhähne sind entlüftet. Die Frühlingssonne arbeitet sich durch das große Fenster zur Straße.

Normalerweise säße Guerrero jetzt da vorne an Tisch 3, wo es am hellsten ist, würde die Buchführung machen, Bestellungen sortieren, Dienstpläne organisieren, und vielleicht würde er kurz darüber nachdenken, ob Werder Bremen im nächsten Spiel Philipp Bargfrede auf die Sechs stellen sollte oder doch mal wieder Nuri Sahin. Fernando Guerrero, 54, ist einer von zwei Geschäftsführern des Eisen in Bremen, und wie alle Gastronomen ist er gerade auf Pause gestellt.

Die Stille, die sich jetzt über das Land gelegt hat, dröhnt hier besonders laut

Im Eisen werden sonst alle Fragen des Fußballs leidenschaftlich diskutiert, die kleinen nach der Taktik fürs Wochenende und die großen, die nach dem Sinn, dem Wert und der Zukunft des Fußballs. Der Club liegt in dem "Viertel" genannten Kiez, fast in Spuckweite zum Weserstadion. Die Stille, die sich über das Land gelegt hat, dröhnt hier besonders laut, denn die Clubs sind geschlossen, und der Fußball ist abgeschaltet. Wie ein Spielplan ist im Eisen der Alltag getaktet. "Und plötzlich löst der sich auf", sagt Fernando Guerrero.

Vor ein paar Wochen noch, genauer gesagt also vor einer Ewigkeit, als Fadenkreuze und Hurensöhne wie die Symbole der Apokalypse erschienen, hätte man im Eisen gut erforschen können, worum sich diese Diskussion wirklich drehte. Hier, sagt Fernando Guerrero, "ist die Liebe zum Fußball der Kristallisationspunkt". Gemeint ist damit nicht die "echte Liebe", die mancher Bundesligist von Werbeagenturen plakatieren lässt, und auch nicht das, was Fifa, DFL oder der Sport-Boulevard als Leidenschaft verkaufen wollen. Sondern die echte Liebe ohne Anführungszeichen.

Fußball ist hier Teil der Subkultur, der Zugang zum Spiel ist ein emotionaler, kein erfolgsorientierter und schon gar kein kommerzieller. "Für uns ist Fußball Kommunikation", sagt Guerrero, der eine Dauerkarte fürs Weserstadion hat und eine fürs Millerntor auf St. Pauli. Seine Gäste erleben etwas gemeinsam und wollen das miteinander teilen, vom Stehplatz in der Ostkurve bis zum Tresen sind es keine zehn Minuten. Das Spiel ist noch warm, wenn es im Eisen auseinandergenommen wird.

Anders als die Stadien in anderen Städten ist das Weserstadion dort geblieben, wo es immer war, ist nicht als Arena verkleidet an eine Autobahn gezogen. Das Stadion liegt im "Viertel", den Rhythmus hier bestimmen kleine Secondhand-Läden, ein bisschen Rotlicht, eine echte Drogenszene, als heilige Orte verehrte Dönerbuden und Dutzende kleiner, inhabergeführter, in den Augen mancher Spießer womöglich sogar subversiver Clubs. Und Werder.

"Ich weiß nicht, ob das Herz des Viertels im Eisen schlägt", schreibt Arnd Zeigler über Whatsapp zurück, wenn man ihn nach seiner Einschätzung fragt, "aber wenn man nach der Seele des Viertels sucht, sollte man im Eisen anfangen." Zeigler ist Stadionsprecher bei Werder und Fußball-Nerd, im Fernsehen forscht er in "Zeiglers wunderbarer Welt des Fußballs" akribisch nach den verblieben Resten von Menschlichkeit im Profigewerbe, nach den Momenten hinter der Inszenierung. "An keinem Ort in Bremen bündeln sich Empathie, Herz und hanseatische Verbindlichkeit so sehr wie an einem Tresen, hinter dem man von Fernando bedient wird", schreibt Zeigler.

Und jetzt scheint alles bedroht zu sein, die Subkultur, die Kneipenszene, der Fußball an sich und Werder Bremen ganz besonders. Gerade hat der Geschäftsführer des Vereins, Klaus Filbry, erklärt, warum er glaubt, dass Werder auch für die zweite Liga die Lizenz erhält. Die Norddeutschen sind Vorletzter in einer Saison, von der keiner weiß, ob und wie sie zu Ende gehen wird. Ursprünglich wollte der Klub in den Europacup-Wettbewerb, er hat dafür große finanzielle Risiken in Kauf genommen. "Wir sind all-in gegangen, als der Pokertisch umgeworfen wurde", sagt Fernando Guerrero, auch das noch. Sein erstes Spiel im Weserstadion hat er im August 1977 gesehen, gegen die Bayern. Er hatte seine Mutter, mit der er aus Ostfriesland nach Bremen gezogen war, so lange bekniet, bis sie ihm sogar einen Werder-Schal strickte. Den Schal trug er auch am 8. Mai 2004, als die Bremer in München 3:1 gewannen und ihren bis heute letzten Meistertitel holten.

Am Dienstag vergangener Woche haben Guerrero und sein Kompagnon Benno Patzer die kleine Belegschaft nach Hause geschickt, Tränen flossen. "Wir haben ihnen gesagt, dass wir auch in der Erschütterung zusammengehören und den Weg gemeinsam gehen, wie zerzaust wir auch immer da rauskommen werden", sagt Guerrero. Einen Monat lang bezahlen sie ihre zwölf Leute so, als wäre alles wie immer. Und dann?

Fernando Guerrero stand schon als Student im April 1992 in der allerersten Schicht hinterm Tresen des Eisen, einem Laden mit bewegter Vergangenheit. Früher hieß das Lokal "Pferdestall" und war Anlaufpunkt der Theatermenschen und Künstler der Stadt, Rudi Carrells Stammlokal. Noch viel früher war hier wohl ein "Polizeibureau", den Schriftzug haben sie jedenfalls auf einem Sandstein in der Fassade freigelegt, "Bureau" auf Französisch. Die Franzosen hielten Bremen von 1806 bis 1814 besetzt. Das Haus hat viel überlebt. "Wenn es jetzt so zu Ende gehen würde", sagt Fernando Guerrero, "das wäre unwürdig." Er und sein Geschäftspartner haben das Eisen 2002 von ihrer Chefin übernommen. Sie wollte es niemand anderem überlassen als den eigenen Leuten. Wenn es mal zu Ende geht, sagt Guerrero, "dann muss es mit einem Knall sein und einer Woche durchfeiern". Die Eröffnungsparty im April 1992 hat vier Tage gedauert.

Solch existenzielle Dramen spielen sich viele ab in diesen Zeiten, allein im Bremer Viertel gibt es mehr als drei Dutzend Clubs, die ähnlich gestrickt sind wie das Eisen, inhabergeführte, unabhängige, kleine Läden, in denen das Herzblut der Wirte pulsiert. Und alle leben zu einem beträchtlichen Teil auch vom großen Stadion am Bogen der Weser. Die Fußballszene im Viertel ist keine Kundschaft, sie ist ein Milieu. Ihr Verschwinden wäre daher keine Lappalie, sondern der Verlust einer emotionalen Heimat für sehr viele Menschen. Auch darum geht es, wenn sich der Fußball bemüht, seinen Spielbetrieb aufrechtzuerhalten.

In Bremen haben sich die Clubs zusammengeschlossen, damit nicht jeder für sich kämpfen muss, sondern alle zusammen. "Clubverstärker" heißt die Initiative, denn wie das unter Fußballromantikern halt so ist: You'll never walk alone. "Wenn man als Einzelner überleben würde", sagt Fernando Guerrero, "dann wäre das Ganze nicht mehr dasselbe." Er putzt jetzt jeden Tag was anderes im Eisen. Für eine saubere Wiedereröffnung.

© SZ vom 28.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Corona-Krise
:Wie Sportler helfen

Die einen gehen für Risikopatienten einkaufen, andere helfen bei der Tafel - oder protestieren gegen Hamsterkäufe. Wie sich der Sport in der Corona-Krise engagiert. Eine Auswahl.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: