Süddeutsche Zeitung

Fußballfans:Ein Mosaik des Unmuts

Eine Demonstration der Fußballfans in Berlin hat sich gegen vieles gerichtet, sie stellt aber eine zentrale Frage: Fußball für die Fans im Stadion? Oder für die Zuschauer vorm Fernseher?

Boris Herrmann

Berlin - Menschen, die das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung vermissen, die sich der Willkür der Polizei ausgesetzt sehen und sich in der Öffentlichkeit als Verbrecher abgestempelt fühlen, während sich Großkonzerne auf ihre Kosten bereichern - diese Menschen nennt man in Deutschland Fußballfans. So sieht zumindest das gegenwärtige Selbstbild in den Kurven aus. Am Samstag in Berlin sind die Kurven auf die Straße gegangen und haben Bürgerrechte eingefordert. Selbst Martin Luther King war virtuell anwesend: "Wir haben einen Traum, dass sich eines Tages die Fans dieser Nation zusammenschließen", war auf einem Flugblatt zu lesen.

Grand Prix der Fan-Gesänge

Zumindest in Teilen hat sich die organisierte Fangemeinde diesen Traum mit der Massenkundgebung "Zum Erhalt der Fankultur" bereits erfüllt. Rund 4000Fußballfreunde aus 50 Vereinen aller Ligen und Bundesländer versammelten sich am Alexanderplatz. Am Anfang belauerten sich Schalker und Dortmunder, Braunschweiger und Hannoveraner, Herthaner und Unioner noch misstrauisch.

Jede Delegation hatte sich in einer anderen Ecke des Areals zum Frühschoppen zusammengerottet. Aber schon die Tatsache, dass sie alle die gleichen T-Shirts trugen - in den jeweiligen Vereinsfarben, versteht sich - veranschaulichte: An diesem Tag muss die Rivalität ausnahmsweise mal den gemeinsamen Feindbildern weichen. Die Deutsche Fußball Liga (DFL), der Deutsche Fußball-Bund (DFB), "die Bullen", das Fernsehen und der Kommerz im Allgemeinen, das sind aus Sicht der Fans die Totengräber der Fußballkultur.

Atmosphärisch muss man sich eine Fan-Demo in etwa so vorstellen wie ein Fußballspiel ohne Fußball. Singen, trommeln, skandieren, Plakate hochhalten, das ist für die, die sich Ultras nennen, praktisch Tagesgeschäft. Das beherrschen sie besser als Atomgegner und Bahnhofs-Boykottierer. Hunderte Schaulustige, zu denen die Polizistin und Hammerwerferin Betty Heidler zählte, erlebten einen beschwingten Grand Prix der deutschen Fan-Gesänge, als sich der Zug in Bewegung setzte. Inhaltlich aber war von Fröhlichkeit wenig zu spüren. Die Demonstranten erklärten: Es geht nicht um kürzere Schlangen am Bierstand. Es geht ums Ganze. "Viele Jugendliche verlieren ihren Glauben an den Rechtsstaat und dessen Instanzen", teilte die Delegation von Werder Bremen mit.

Auch andere Vereine setzten eigene Schwerpunkte. Die von Schalker Eintrittspreisen geplagten Dortmunder skandierten: "Fußball muss bezahlbar sein!" Ein Zehnergrüppchen in den Farben von Sachsen Leipzig war: "Pro Regionalliga-Reform!" Die angereisten Bayern-Fans hatten eine aufgepumpte Darth-Vader-Puppe dabei, die auf die Erbarmungslosigkeit der Münchner Spezialeinheit USK anspielte. Und den Anhängern des Zweitligisten Arminia Bielefeld ging es vor allem darum, das leidige Montagsspiel abzuschaffen. All diese Einzelinteressen aber ergaben zusammen ein großes Mosaik des Unmuts. Der Veranstaltungssprecher Steffen Toll fasste zusammen: "Heute geht es darum, zu zeigen, dass die im gegnerischen Block genau dieselben Probleme haben."

In erster Linie wäre hier die Zersplitterung der Spieltage zu nennen. Allein in den ersten beiden Bundesligen gibt es am Wochenende mittlerweile neun verschiedene Anstoßzeiten. Dienstags wird in der zweiten Liga bereits um 17.30 Uhr gekickt. "Das ist eine absolute Katastrophe. Man hat kaum noch die Möglichkeit, zu Auswärtsspielen zu fahren", schimpfte Toll. Dazu kämen die immens steigenden Kartenpreise, der Ausverkauf von Vereinstradition, das strikte Verbot von Pyrotechnik und kritischen Plakaten sowie eine Sippenhaft-Politik bei der Durchsetzung von Stadionverboten. "Wir sind hier in Deutschland ganz stark auf dem Weg, den andere Länder wie Italien und England bereits beschritten haben", findet Wilko Zicht vom Bündnis Aktiver Fußball-Fans (BAFF). Oder wie es Christian Arbeit, der Presse- und Stadionsprecher von Union Berlin ausdrückte: "Es muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Fußball von den Leuten lebt, die hingehen."

Im Kern geht es also um die spannende Frage, ob Fußballspiele in erster Linie für die Fans im Stadion oder die Zuschauer vor dem Fernseher veranstaltet werden. In England und Italien hat man sich für das TV-Publikum entschieden. Wo einst herkömmliche Stehplätze waren, befinden sich längst überteuerte Polstersitze - oder leere Ränge. In Deutschland unterstreicht selbst die Kanzlerin oft die gesellschaftlichen Segnungen des Volkssportes. Das eigentliche Fußballvolk aber fühlt sich auch hier zunehmend ausgegrenzt. Und instrumentalisiert. Wenn es um stimmungsvolle Aufnahmen aus den Kurven geht, sind Vereine, Verbände, Fernsehen und Werbeindustrie auf treue Fans angewiesen. Aber wehe, diese Kurven wollen mitentscheiden, dann ist meist nur von Problemfans die Rede.

Nun ist diese Debatte keineswegs neu. Bereits vor drei Jahren riefen DFB und DFL die die "AG Fandialog" ins Leben. Damals wurde versprochen, die Anhänger an fanrelevanten Entscheidungen zu beteiligen. Inzwischen haben aber die meisten Fanprojekte die Gesprächsrunde frustriert verlassen. "Das waren bessere Kaffeekränzchen", sagte BAFF-Sprecher Zicht. Und selbst der DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn räumte ein: "Ich kann durchaus verstehen, dass die Fans auf die Straße gehen."

Viel Glaubwürdigkeit verspielt

Die neue Stärke der Demo am Alexanderplatz lag darin, dass auch die Vorkämpfer der Fankultur ausnahmsweise zu ihren Schwächen standen. Martin Schwarze vom berüchtigten Hertha-Fanklub "Harlekins" gab in seiner Ansprache zu, dass so manche Blockbewegung mit Überfällen auf gegnerische Fans (Bochum) und Platzerstürmungen (Berlin) zuletzt viel Glaubwürdigkeit selbst verspielt habe. "Da muss ein Selbstreinigungsprozess einsetzen", rief er Tausenden jubelnden Ultras entgegen.

Nur die Anhänger aus Leverkusen und Gladbach klatschten nicht. Sie sind mit Blick auf die verhasste Kölner Fanszene zu Hause geblieben.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2010
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