In nicht mal eineinhalb Stunden ist Philipp Wollscheid in London. Wenn er im Zug von Stoke-on-Trent in die Hauptstadt Großbritanniens sitzt, kann er nicht nur die einsamen Landschaften der Midlands an sich vorbeifliegen sehen, sondern in den stillen Momenten auch seine Laufbahn als Berufskicker. Es war lange Zeit eine Karriere im Zeitraffer, eine schöne Geschichte, die linear verläuft, ohne Brüche. Doch inzwischen hat sie Risse bekommen, die einen jungen Menschen ziemlich quälen können. Der 26-Jährige ist deshalb nach England übergesiedelt, seit Januar spielt er nun für Stoke City in der Premier League - und wartet darauf, dass die Karriere wieder Fahrt aufnimmt.
Der Innenverteidiger Wollscheid ist ein seltenes Beispiel dafür, dass man heutzutage auch dann noch in den Profifußball einsteigen kann, wenn man nie eines dieser Bundesliga-Internate von innen gesehen hat. Dieser ungewöhnliche Bildungsweg ist im durchdesignten modernen Fußball mit den vielen Einserabsolventen eigentlich nicht mehr vorgesehen. Wollscheid spielte sich innerhalb von nur zwei Jahren von der Oberliga Südwest in die Bundesliga. "Ich kann nicht sagen, ob ich früher übersehen worden bin oder ich noch nicht so weit war", sagt Wollscheid im Rückblick. Mit 21 Jahren debütierte er beim 1. FC Nürnberg in der Beletage, ein Jahr später zahlte Bayer Leverkusen schon sieben Millionen Euro für den Fußballer, der von den aufgeregten Talentspähern lange unentdeckt blieb.
Wollscheid spielte in seiner ersten Saison am Rhein viel und auffällig, er kam in der Champions League zum Einsatz und lief im Sommer 2013 während der USA-Reise erstmals für die deutsche Nationalmannschaft auf. Sein Traum von der Teilnahme bei der Weltmeisterschaft in Brasilien schien Realität zu werden.
Doch es blieb ein Traum.
"Es läuft nicht immer glatt im Leben", sagt der zweimalige Nationalspieler nüchtern wie ein Notar bei der Testamentseröffnung. Nach 108 Bundesligaspielen ist er vom großen Radar in Deutschland verschwunden, sein Leben spielt sich nun weitgehend im Verborgenen ab. "Die Aufmerksamkeit ist in England schon geringer geworden", sagt Wollscheid, "aber ich spiele ja nicht bei einem Absteiger, sondern bei einem gehobenen Mittelklasseklub." Der gebürtige Saarländer ist in die englische Provinz gezogen, um seine Karriere neu zu starten, einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in die er geschlittert war. Wollscheid ist selbst gespannt, wohin die Reise ihn nun führen wird.
Mit seinem Karriereknick mag er sich aber nicht groß beschäftigen. "Warum es gekommen ist, wie es gekommen ist, weiß ich selbst nicht genau", bekennt Wollscheid. Er will es auch nicht hinterfragen. Nicht mehr. Er hat abgeschlossen mit Leverkusen, wo er in der vergangenen Saison kaum noch spielte. "Es bringt doch auch nichts, zu jammern und der schönen Zeit nachzutrauern", fährt Wollscheid in ruhigem Tonfall fort. Er ist nicht der Typ, der grübelt. Er ist kein Träumer mehr. Er ist jetzt Realist, der so spricht wie er auf dem Platz spielt: unaufgeregt, pragmatisch.