Süddeutsche Zeitung

Werder Bremen in der 2. Liga:Komplizierte Schleifen im Kopf

Ein volles Stadion, große Emotionen und ein 2:3 nach 2:0-Führung: Bremen erlebt gegen Kiel die volle Wucht des Aufstiegskampfes - Trainer Werner wird an seine eigene Vergangenheit erinnert.

Von Thomas Hürner, Bremen

Der Torwart Jiri Pavlenka trat gegen den Pfosten und fuchtelte mit den Armen. Der Stürmer Niclas Füllkrug ließ sich auf den Boden fallen und machte eine Rolle rückwärts. Der Verteidiger Marco Friedl starrte gedankenverloren ins Leere. Und Ole Werner? Der Trainer des SV Werder Bremen hatte sich da schon längst auf den Weg gemacht, um seine niedergeschlagenen Spieler aufzurichten, mit einem Klaps auf den Po oder einem Kniff in die Wange.

Über diese emotionale Hinwendung hätten sich am Freitagabend noch zirka 42 100 weitere Menschen gefreut. Bis auf den letzten Platz haben sie das Bremer Weserstadion ausgefüllt, sie haben von Beginn an eine Mauer des Optimismus errichtet und in der Tat alles versucht, um ihre Werder-Mannschaft die entscheidenden Treppenstufen in Richtung Erstklassigkeit nach oben zu schieben. Und es war ja nicht so, dass ihre Mannschaft gegen Holstein Kiel irgendwas unversucht ließ, dass sie zu wenig rannte, zu selten grätschte oder mutlos nach vorne spielte. Nein, das alles ließ sich der Mannschaft nicht vorwerfen. Dennoch verlor Werder 2:3. Trotz 2:0-Führung. Nach einem dieser Abende, der später mal als der Anfang allen Übels in die Bremer Saisonchronik eingetragen werden könnte.

"Ich spüre pure Enttäuschung", sagte der Werder-Verteidiger Anthony Jung

Denn etwa zu dem Zeitpunkt, als die Werder-Spieler auf dem Rasen lagen und sich von ihrem Trainer Werner trösten ließen, da traf im weit entfernten Sandhausen der Stürmer Simon Terodde zum späten Sieg des FC Schalke 04, der sich damit an die Tabellenspitze dieser irren und unvorhersehbaren zweiten Liga schob. Also wieder vorbei an den Bremern, denen Königsblau in der Vorwoche noch mit 1:4 unterlegen war, in einem Spiel, das vielerorts als Vorentscheidung im Aufstiegsrennen gewertet worden war - und das nur sechs Tage später fast so viel an Wert verloren hat, wie es westliche Politiker gerne am russischen Rubel beobachten würden.

"Ich spüre pure Enttäuschung", sagte der Verteidiger Anthony Jung, der für gewöhnlich nicht aus seinem Innenleben berichtet. "So geht das nicht", schimpfte der Kapitän Friedl. Und sogar der reservierte Werner sprach von einem "Nackenschlag", der ihn und seine Mannschaft da mit voller Wucht getroffen habe. "Aber jetzt werden wir den Blick schon nach vorne richten."

Werder-Coach Werner hat in der vergangenen Saison mit Kiel den Aufstieg verpasst

Keine schlechte Idee, denn beim Blick zurück würde der Werder-Coach wahrscheinlich eine komplizierte Schleife in seinem Kopf drehen und dort auf nicht sehr schöne Erinnerungen stoßen. Das Gefühl des Kurz-vor-Schluss-Scheiterns kennt Werner schließlich aus der vergangenen Saison, damals noch als Trainer seines Heimatklubs Holstein, mit dem er kurz vor Saisonende von den direkten Aufstiegsrängen rutschte und auch in der Relegation scheiterte.

Mit Fug und Recht verweist Werner zwar auch heute noch darauf, dass seinerzeit eine Sondersituation eine gehörige Mitschuld am Scheitern hatte, da seine Mannschaft ausgerechnet in der heißen Saisonphase mehrmals in Corona-Quarantänen beordert wurde und deshalb aus dem Rhythmus kam. Man könnte das aber auch einfach nur "Unglück" nennen. Und davon hatten die Bremer am Freitagabend genug.

In der Wissenschaftsliteratur gibt es keine zitierfähigen Werke, die ein Fußballspiel wie das zwischen Werder und Holstein vollumfänglich erklären könnten. Mit dem Abpfiff führte die Heimelf in allen erfassten Statistiken, beim Ballbesitz, bei den herausgespielten Chancen, bei den angekommenen Pässen, bei den in den Strafraum getretenen Eckbällen. Nur halt nicht in der einzigen Kategorie, die am Ende von Relevanz ist: mehr Tore schießen als der Gegner. Dabei waren die Kieler ihnen schon nach zwei Minuten bestmöglich entgegenkommen, als ein Verteidiger etwas tollpatschig über den Ball schlug und so den Weg bereitete zum 1:0 durch Stürmer Füllkrug. Nach 20 Minuten verwandelte dann der andere Werder-Stürmer, Marvin Ducksch, einen Handelfmeter stilsicher zum 2:0.

Man müsse jetzt zwei Spiele gewinnen, sagte Bremens Marco Friedl, "sonst steigen wir nicht auf"

"Das Spiel beginnt überragend für uns", sagte der Verteidiger Friedl. Und es hätte vermutlich auch mit einem Sieg geendet, wenn nicht kurz vor dem Halbzeitpfiff der vermeidbare Anschlusstreffer für Kiel gefallen wäre - nach einem Kieler Eckball, etlichen gescheiterten Bremer Klärungsversuchen und einem von Füllkrug abgefälschten Schuss, der als Eigentor gewertet wurde. "So holen wir den Gegner zurück ins Spiel", monierte der Werder-Coach Werner, "und dann geben wir das Spiel im Endeffekt komplett aus der Hand."

Das war eine vielleicht überdeutliche Analyse. Denn Werder wurde zwar fahriger und fing sich hinten noch zwei simple Tore, die man sich im Aufstiegsrennen keinesfalls fangen darf. Aber das waren dann schon so ziemlich die einzigen Gefahrenmomente, die Holstein erzeugen konnte, wohingegen die Bremer so viele Chancen am Wegesrand liegen ließen, dass sie froh wären, wenn man diese per Anhalter zu den letzten beiden Saisonpartien gegen Aue und Regensburg mitnehmen könnte.

Für den Österreicher Friedl ist die Rechnung jetzt trotzdem ganz einfach: "Wir müssen eine Reaktion zeigen und diese Spiele gewinnen", sagte er, "sonst steigen wir nicht auf." So ziemlich jedes Institut für angewandte Mathematik würde diese These wohl bestätigen.

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