Süddeutsche Zeitung

Videoschiedsrichter bei der WM:Musste das sein?

  • Der Videoschiedsrichter funktioniert bei der WM in Frankreich maximal holprig. Die Entscheidungsfindung dauert teilweise über fünf Minuten.
  • Viele Schiedsrichterinnen haben keine Erfahrung mit der Technik. Die Fifa räumt Fehler ein.
  • Paradoxerweise führt es auch zu Problemen, weil Frauen viel weniger Reklamieren als Männer.

Von Tim Brack, Rennes

Die Aussagen des deutschen Unparteiischen Bastian Dankert wirken in der Nachbetrachtung wie düstere Prophezeiungen. Dankert ist Videoschiedsrichter bei der Fußball-WM der Frauen in Frankreich. Der Video Assistant Referee (VAR) ist dort zum ersten Mal bei einem großen Turnier im Frauenfußball im Einsatz - und seine Premiere verläuft mehr als holprig.

Dass es Probleme geben würde, ahnte Dankert schon, bevor in Frankreich das erste Rechteck in die Luft gezeichnet wurde. Die Zeitspanne zwischen der Prüfung durch den Videoassistenten im Kontrollraum und des Studiums einer Szene durch die Unparteiische am Feldrand dürfe nicht zu groß sein, hatte Dankert vor Turnierbeginn im ZDF gewarnt: "Sonst wird der Zuschauer auch unruhig. Das ist der größte Problempunkt, den ich ausmachen kann." Unglücklicherweise gehören in Frankreich unruhige Fans und lange Wartezeiten zum Turnier wie Torjubel und Grätschen. "Emotionskiller" hat die ehemalige Bundestrainerin Silvia Neid die langen Unterbrechungen gerade genannt.

Selten vergeht ein Tag, an dem nicht über den Videoschiedsrichter diskutiert werden muss. Einen der jüngsten Fälle lieferte das Achtelfinale zwischen den USA und Spanien. Beim Spielstand von 1:1 berührte die Spanierin Virginia Torrecilla im Strafraum ihre Gegenspielerin Rose Lavelle mit den Stollen am Bein. Lavelle fiel, Schiedsrichterin Katalin Kulcsar entschied auf Strafstoß. Es war ein Pfiff im Graubereich, eine leichte Berührung hatte stattgefunden. Die Unparteiische initiierte bereits die Vorbereitungen für den Elfmeter, doch bevor US-Stürmerin Alex Morgan anlaufen konnte, kontaktierte Videoschiedsrichter Danny Makkelie (Niederlande) die Unparteiische und riet ihr, die Foulszene noch einmal anzusehen. Kulcsar schritt zum Monitor, prüfte und entschied, dass ihre ursprüngliche Einschätzung richtig sei. Das US-Team hatte währenddessen Megan Rapinoe als geeignetere Schützin auserkoren, die mit ihrem Tor zum 2:1-Endstand dem US-Team den Einzug dann ins Viertelfinale gegen Frankreich sicherte. Zwischen dem Pfiff, der den Strafstoß freigab, und dem Foul-Pfiff lagen fünf Minuten und 25 Sekunden. Wer nach dem Spiel einen Termin hatte, konnte eine Verspätung einplanen.

In der Szene verdichteten sich einige Phänomene, die den Videobeweis bei dieser WM zum Problem machen. Die Entscheidungsfindung dauert sehr lang, und warum der VAR eingreift, ist nicht immer verständlich. Eigentlich soll er nur bei "klaren und offensichtlichen Fehlern" zum Einsatz kommen, sagt das Regelwerk. Widerstände dieser Art sind bereits aus der Männer-Bundesliga bekannt. Bei der WM in Russland im vorigen Sommer funktionierte die Technik dagegen recht reibungslos und fand großen Anklang. Warum läuft bei der WM der Frauen dann so viel schief?

Ein Grund dafür ist, dass die Fifa die Einführung in den Frauenbereich offenkundig überstürzt hat. Nach dem Erfolg in Russland war der Weltverband "entschlossen, alles daran zu setzen, VAR auch im Frauenfußball zum Einsatz zu bringen", hatte Fifa-Generalsekretär Zvonimir Boban erklärt. Zehn von 15 Videoschiedsrichter-Positionen besetzte die Fifa deswegen mit erfahrenem Personal aus Russland.

Trotz der erfolgserprobten Vertreter verläuft der Einsatz in Frankreich maximal ungeschmeidig. Das liegt paradoxerweise auch daran, dass Fußballerinnen sich häufig korrekter verhalten als viele Männer. Sie reklamieren selbst dann nicht, wenn ein Foul vorliegt. Die ungewohnte Ritterlichkeit erschwert den Videoschiedsrichtern ihre Arbeit. "Das ist sicherlich ein Problem, weil man immer wieder denkt, irgendwo muss doch ein Protest sein", hatte Dankert vor der WM gesagt.

Verschärft wird das VAR-Problem durch mangelnde Erfahrung vieler Schiedsrichterinnen mit der Technik. Erst nach der Männer-WM 2018 begannen die Schulungen für die Unparteiischen. Die männlichen Kollegen waren beim Turnier in Russland dagegen bereits durch ihre Ligen praxiserprobt. Zwar haben die Schiedsrichterinnen "ein intensives Vorbereitungsprogramm absolviert", wie Pierluigi Collina, Vorsitzender der Fifa-Schiedsrichterkommission, nach der Vorrunde versicherte. "Ich muss allerdings zugeben, dass auch ein paar Fehler gemacht wurden."

In Frankreich war zudem zu beobachten, dass der VAR, der als Hilfsmittel gedacht ist, eine negative Wirkung entfalten kann. Bezeichnend waren die Szenen der Kamerunerinnen, die gegen England einen Streik anzettelten, weil sie sich von Videoschiedsrichter Dankert benachteiligt gefühlt hatten. Der deutsche Unparteiische lag zwar mit all seinen Eingriffen richtig, bewies damit aber auch, dass die chinesische Schiedsrichterin Lian Qin genauso oft daneben lag. Ein Schlag für ihre Autorität. Das Beispiel zeigt, dass das Niveau der Schiedsrichterinnen nicht durchgehend weltmeisterlich ist, manche scheinen dem immer rasanter werdenden Frauenfußball hinterherzuhinken. "Leider entwickeln sich nicht alle Schiedsrichterinnen so schnell wie die Spielerinnen", sagte Neid.

Die Gemengelage um den VAR dürfte der Fifa nicht unbekannt sein. Vor dem Turnier hatte Dankert gesagt, das Projekt sei ein "ganz, ganz großer Prozess, den wir noch erlernen müssen". Die WM hat gezeigt, dass der Weg zur Vollendung lang ist. Was die Frage aufwirft, ob der VAR bei dieser WM tatsächlich schon zum Einsatz kommen musste.

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Quelle:
SZ vom 26.06.2019/schm
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