Fußball-WM:Verdächtiger Einstich in der Ellenbeuge
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Von Johannes Aumüller, Sotschi, und Thomas Kistner, Sotschi
Stanislaw Tschertschessow ist ein Meister der Verknappung. "Ist das Spiel gegen Kroatien das wichtigste Spiel Ihres Lebens?", will ein Reporter vor dem Viertelfinale wissen. Russlands Nationaltrainer sagt nur: "Ich hoffe, dass die wichtigsten Spiele noch kommen." Als der Reporter ergänzende Ausführungen erbittet, teilt Tschertschessow mit, das sei alles - und zitiert einen Aphorismus des russischen Schriftstellers Anton Tschechow: "Die Kürze ist die Schwester des Talents."
Manchmal ist Kürze aber nicht mit Talent verschwistert, sondern mit Intransparenz. Russlands Verantwortliche müssen sich wieder einmal mit Fragen zu einem heiklen Thema auseinandersetzen. Die betreffen dieses Mal ein Foto, das am Tag des Achtelfinalsieges gegen Spanien aufgetaucht ist. Darauf zu sehen ist die linke Ellenbeuge von Angreifer Artjom Dsjuba, der es während der WM vom Reservisten zum Top-Torjäger des Teams (drei Treffer) gebracht hat. Und darin ein Einstich. Das kann grundsätzlich viel bedeuten, es gibt allerlei Gründe, warum es eine Blutabnahme oder eine - in begrenztem Umfang erlaubte - Infusion gegeben haben könnte. Im Fall der Gastgeber irritiert aber erneut der Umgang mit dem Sachverhalt.
Warum am Ellenbogen, wenn es auch am Ohrläppchen geht?
Auf Anfrage schickt der Verband eine Erklärung des Teamarztes. "Um den Funktionszustand zu überwachen, betrachten Ärzte verschiedene hämatologische Parameter, die sowohl aus kapillärem als auch aus venösem Blut stammen", teilt Eduard Besuglow mit. Kapilläres Blut lässt sich am Ohr oder am Finger abzapfen; Venenblut stammt in der Regel aus der Ellenbeuge. Dies seien, so Besuglow weiter, "Routine-Maßnahmen, die es uns ermöglichen, die Belastungstoleranz und die Regenerationszeit zu kontrollieren sowie Muskelverletzungen zu verhindern".
Leistungsdiagnostik auf der Grundlage von venösen Blutabnahmen? Diese Erklärung erzeugt starke Verwunderung bei Fachleuten. Für solche Untersuchungen, sagt der Pharmakologe Fritz Sörgel, genüge in aller Regel Kapillarblut. "Das ist sehr ungewöhnlich, dass dafür in die Vena Basilica gestochen werden muss", sagt der Experte, der auch das Foto kennt: "Warum muss jemand unbedingt punktiert werden, wenn doch ein kleiner Piekser ins Ohrläppchen reichen würde?"
In anderen Teams mit gut entwickelter sportmedizinischer Begleitung wird das jedenfalls so gehandhabt. Bei der deutschen Nationalelf werden laut DFB venöse Blutentnahmen nur selten durchgeführt: Nur mit klarer medizinischer Indikation, also zum Beispiel, wenn ein Spieler einen Infekt hat. Demnach steht die Bewertung von Blutparametern auch nicht im Zentrum des Monitorings, das die Belastung überprüft, es geht verstärkt um andere Werte. Werden aber Blutparameter hinzugezogen, basieren diese auf kapillärer Blutentnahme - und nicht auf venöser. Leistungsdiagnostische Zwecke lassen sich nach Ansicht der DFB-Mediziner mit Blutdaten nicht sinnvoll verfolgen.
Der deutsche Teamarzt Tim Meyer hat das Thema sogar explizit mit Kollegen in einem Fachbuch abgehandelt ("Sportmedizin im Fußball"). Da heißt es: "Eine regelmäßige Kontrolle von Laborwerten mittels venöser Blutentnahmen sei "nicht geeignet, um Überlastungszustände oder Phasen hoher Belastung anzuzeigen. Venöse Blutentnahmen sollten nur bei bestehender medizinischer Indikation erfolgen (...) und auf das notwendige Minimum beschränkt bleiben."
Zwei Dinge sind es, die Anti-Doping-Experten wie Sörgel beunruhigen: Dass eine so intensive Leistungsdiagnostik im russischen Team ja auch signalisiere, dass man unmittelbar reagieren könnte. Und dass angesichts venöser Blutentnahmen via Punktionsnadel immer auch eine Alternative klar auf der Hand liege: "Wenn ich aus der Vene etwas rausnehme, kann ich dort ebenso gut etwas hineinführen." Der Zeitpunkt, die Venen-Punktion mit der Zuführung von, beispielsweise, Vitaminen zu begründen, ist für die Russen jedoch verpasst. Auf konkrete Rückfrage der SZ, ob bei Dsjuba nur eine Blutentnahme erfolgt sei und keine Injektion oder Infusion, teilte der Teamsprecher mit: "Das war unser Kommentar, und das ist alles."
Russland ist nicht das einzige Land, dessen sportmedizinische Aktivitäten mit Skepsis zu begleiten sind; gerade auch Deutschland hat eine unrühmliche Vergangenheit. Aber den WM-Gastgeber umgibt ja nun auch eine ungenügend aufgeklärte Staatsdoping-Affäre. Zugleich ist es so, dass sich die neuen Fragen in ein Puzzle aus anderen Vorgängen einfügen, die nahelegen, dass alles ausgereizt wird, was irgendwie geht. So räumte der Verband gegenüber der SZ ein, dass ein Spieler vor der Einwechslung gegen Spanien an einem in Ammoniak getränkten Wattebällchen schnüffelte. Das ist nicht verboten, Ammoniak soll jedoch aufputschend wirken und verstärkten Atemanreiz auslösen, der die Sauerstoffversorgung verbessert. Der russische Verband tat so, als sei dies so gebräuchlich wie der Einsatz von Shampoo beim Duschen. Auch war im russischen Sport über Jahre das Herzmittel Meldonium weitflächig im Einsatz. Selbst, als es auf der Doping-Verbotsliste stand, griffen viele Russen noch zu.
Fußball als Teil des staatlich orchestrierten Dopingsystems
All das ist eingebettet in den dringenden Verdacht, dass der Fußball Teil des staatlich orchestrierten Dopingsystems war. Zwar behaupten Russland und die Fifa, Anschuldigungen gegen aktuelle WM-Kicker seien geklärt. Aber Doping-Kronzeuge Grigorij Rodtschenkow und der für die Welt-Anti-Doping-Agentur tätige Sonderermittler Richard McLaren verweisen auf eine Fülle von Daten, die zeigen, wie auch Fußballer profitierten.
Russland und die Fifa, die in Dopingfragen seit jeher besonders lax ist und der Wada sogar den Zugang zu ihren WM-Tests verwehrt - sie stehen eng zusammen. Dass rätselhafte Einstiche oder Ammoniak-Schnüffeleien am Rasenrand schärfere Kontrollen durch den Weltverband bewirken, muss der Gastgeber kaum befürchten. Er kann sich ganz an seiner pünktlich zur WM kraftvoll erblühten Mannschaft erfreuen.