Fußball-WM:Erst die Tragödie, jetzt die Farce

Fußball-WM: Im Auge des Sturms: Uruguays Spieler fühlen sich von Schiedsrichter Daniel Siebert um den Achtelfinaleinzug gebracht.

Im Auge des Sturms: Uruguays Spieler fühlen sich von Schiedsrichter Daniel Siebert um den Achtelfinaleinzug gebracht.

(Foto: Albert Gea/Reuters)

Nach einem wilden 2:0 von Uruguay gegen Ghana stehen alle Seiten als Verlierer da: Die Teams, die beide das WM-Achtelfinale verpassen - und Schiedsrichter Siebert, der den Zorn der Südamerikaner auf sich zieht.

Von Javier Cáceres, al-Wakrah

Zu den berühmteren Zitaten von Karl Marx zählt jenes, das Bezug auf einen anderen Philosophen nimmt. "Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce", schrieb Marx in "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte". Seit Freitag kann man WM-Begegnungen zwischen Uruguay und Ghana zu den Ereignissen zählen, die sich wiederholt haben.

Im zweiten WM-Duell zwischen den beiden Ländern siegte wieder Uruguay, diesmal 2:0. Und wie schon beim ersten Mal waren Elfmeterszenen von entscheidender Bedeutung. Vor allem einer, den der deutsche Schiedsrichter Daniel Siebert nicht gab, und der Uruguay geholfen hätte. So schied der zweimalige Weltmeister wegen des schlechteren Torverhältnisses gegenüber Südkorea als Gruppendritter vor Ghana aus.

Die Tragödie, aus ghanaischer Sicht, hatte sich im Viertelfinale der WM in Südafrika 2010 ereignet - ihr Effekt dauerte bis zum Spiel am Freitag an. Seinerzeit hatte Uruguays Stürmer Luis Suárez mit einem Handspiel im Strafraum ein sicheres Tor der Ghanaer verhindert - und wurde dafür daheim als Märtyrer verehrt, in Ghana hingegen zum Teufel erklärt. Asamoah Gyan drosch damals den folgenden Strafstoß an die Querlatte, Uruguay siegte im Elfmeterschießen und rückte ins Halbfinale vor. Die Farce, die nun am Freitag folgte? Nach gut einer Viertelstunde entschied Schiedsrichter Siebert auf dringenden Rat des Videoschiedsrichters Bastian Dankert auf Elfmeter für: Ghana. Uruguays Torwart Sergio Rochet hatte Mohammed Kudus an den Füßen berührt. Ob er wirklich verantwortlich dafür war, dass Kudus abhob, als wolle dieser ein Bad im Persischen Golf nehmen, war am Ende irrelevant. Denn Ghanas Schütze André Ayew scheiterte an Rochet (21.).

Fußball-WM: Da glaubten noch viele, den dramatischsten Moment der Partie erlebt zu haben: Ghanas André Ayew scheitert mit seinem Elfmeter an Uruguays Torwart Sergio Rochet.

Da glaubten noch viele, den dramatischsten Moment der Partie erlebt zu haben: Ghanas André Ayew scheitert mit seinem Elfmeter an Uruguays Torwart Sergio Rochet.

(Foto: Siphiwe Sibeko/Reuters)

Die Wirkung auf das zentrale Nervensystem der Ghanaer hätte verheerender nicht sein können. Sie wackelten plötzlich heftiger als jedes Beduinenzelt im Sandsturm. Nur kurz nach dem Elfmeter überwand Darwin Núñez Ghanas Torwart Lawrence Ati-Zigi fast mit einem feinen Lupfer; drei Minuten später waren die Hoffnungen der Uruguayer dann erfüllt. Im suggestivsten Stadion der WM-Geschichte - eine Autorin des englischen Guardian fühlte sich schon bei Betrachtung des Entwurfsmodells an eine Vulva erinnert - beendete der zweimalige Weltmeister (1930, 1950) die Unfruchtbarkeit seiner Offensivbemühungen. Nach einer Flanke von rechts, die von zwei ghanaischen Nervenbündeln verfehlt wurde, zog Suárez ab. Ati-Zigi wehrte ab, den Abpraller bugsierte Giorgian de Arrascaeta ins Tor (26.). Sechs Minuten später war es wieder de Arrascaeta, diesmal mit einem ansehnlichen Volleyschuss aus acht Metern nach Assist von Suárez (32.).

In der Pause muss Ghanas Trainer Otto Addo seiner Mannschaft erklärt haben, was in seinem Geburtsort Hamburg und im Rest der Bundesrepublik unter der Chiffre Brechstange firmiert. Zumindest war fortan ein größerer Wille zu erkennen, ins Spiel zurückzukommen. Nur: Die gefährlichen Szenen kreierten die Uruguayer. Einmal tankte sich Núñez bis in den Strafraum durch und ging im Zweikampf mit Daniel Amartey zu Fall. Referee Siebert musste wieder vom VAR an den Bildschirm gerufen werden. Und er hätte im Grunde wieder auf den Elfmeterpunkt zeigen müssen - zumindest unter Heranziehung des Maßstabs, den er in der ersten Halbzeit gesetzt hatte. Siebert überraschte allerdings die 43 443 Zuschauer sowie Luis Suárez, indem er mit Gesten die interessante Einschätzung abgab, Amartey habe den Ball gespielt. Der seit der WM 2014 als Schulterbeißer berüchtigte Suárez kaute Siebert so lange ein Ohr ab, bis er Gelb sah und vom besorgten Trainer Diego Alonso ausgewechselt wurde.

Die Schlussminuten bringen nochmals ein Maximum an Dramatik

Was folgte? Ein formidabler Volleyschuss aus 30 Metern von Federico Valverde (70.), den Ati-Zigi mit Mühe entschärfte, sowie verzweifelte Angriffsbemühungen der Ghanaer. Semeyo verzog knapp, danach lenkte Rochet einen Fernschuss von Kudus spektakulär zur Ecke.

Das Entscheidende aber war die Nachricht aus dem Education Stadium in ar-Rayyan: Südkorea siegte 2:1, war damit weiter, wenn Uruguay nicht erhöhte. Nun waren es die Uruguayer, die es mit der Brechstange probierten. Doch ohne Fortune.

In der Schlussminute gab es nochmals ein Maximum an Dramatik: Edinson Cavani ging im Zweikampf mit einem Ghanaer zu Fall, forderte Elfmeter. Siebert unterstellte eine Schwalbe. Maxi Gómez schoss aus 25 Metern, wieder war Ati-Zigi sensationell zur Stelle. Und damit war die letzte Hoffnung der Uruguayer erstorben. Suárez verbrachte die letzten Minuten voller Bangen auf der Bank. Nach Schlusspfiff zog er sich das Trikot über den Kopf, als er es wieder runterzog, sah man seine Tränen.

Fußball-WM: Luis Suarez nach dem Schlusspfiff.

Luis Suarez nach dem Schlusspfiff.

(Foto: Aijaz Rahi/AP)

Der Frust seiner Mitspieler entlud sich auf dem Rasen an Schiedsrichter Siebert, dem sie auf dem Weg in den Stadiontunnel körperlich zusetzen wollten. "Die Mannschaft hat alles gegeben und es ist sehr klar, was passiert ist. Mehr kann man jetzt nicht sagen", umschrieb es Uruguays Trainer Alonso später vielsagend. "Eine Bande von Dieben, das sind sie", schimpfte Jose Maria Gimenez noch auf dem Feld, Cavani warf im Furor auf dem Weg in die Kabine den VAR-Bildschirm um.

Uruguays Presse erinnerte sofort an die 0:2-Niederlage im zweiten Gruppenspiel, als Portugal einen umstrittenen Handelfmeter zugesprochen bekommen hatte. "Egal welcher Strafstoß, beide verwandelten sich zu einer perversen Ungerechtigkeit der Schiedsrichter, die Uruguay in der Gruppenphase ausschalteten", schrieb die Tageszeitung El Observador. Und mehr noch: "Uruguay wurde bei dieser WM offen benachteiligt."

Und Ghana? "Das ist Fußball. Manchmal ist er schön, manchmal hässlich. Heute war er hässlich", sagte Nationaltrainer Otto Addo, ehe er anfügte: "Diese Mannschaft hat eine große Zukunft vor sich." Allerdings ohne den 47-Jährigen - der bekräftigte, dass er nach der WM nach Deutschland zurückkehren wird.

Zur SZ-Startseite
WM 2022 in Katar: Deutsche Spieler nach dem Vorrsunden-Aus

SZ PlusDeutsches Vorrunden-Aus bei der WM
:Das Ergebnis, das zum großen Schlamassel passt

Fast niemand freute sich auf die WM in Katar und nun fährt das deutsche Team zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Hause. Sportlich stellen sich nach dem schweren Rückschlag Fragen - vor allem an den Bundestrainer.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: