Fußball-WM: Trends:Junge Wilde mit Siegergen

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Überfälle von Tor zu Tor binnen Sekunden, mobile Elf-Mann-Einheiten und der Sieg des Kollektivs über Solisten: elf Trends der Fußball-WM.

Moritz Kielbassa

"Der Fußball", sagt Spaniens Trainer Vicente del Bosque, "ist eine permanente Evolution - mit dem Endziel totaler Dominanz". Das klingt sperrig, trifft die Geschichte des Spiels aber auf den Punkt. Das Endziel wird nie jemand erreichen, doch eine kleine Evolution findet manchmal in kurzer Zeit statt - wie bei der deutschen Mannschaft. Auf die Frage, was die Nationalelf vom FC Bayern lernen könne, sagte Philipp Lahm noch im Mai: "Ganz ehrlich, fast nichts", zu unterschiedlich sei die Spielweise. Im grandiosen Viertelfinale der DFB-Elf erkannte nun aber auch Lahm Ansätze jenes technisch schönen, dominanten Fußballs aus München. Bastian Schweinsteiger, der Mittelfeldherrscher, sagt: "Deutschland spielt völlig anders als noch 2008." Mut zur Veränderung, zur Öffnung für Neues, aber das Gute vom Alten behalten - das ist eines von elf Schlagworten, die keine umfassende WM-Analyse liefern können. Aber einen Versuch wert sind.

Zwei prägende Spieler der WM: Miroslav Klose und David Villa. (Foto: afp)

1. WANDEL

Neue Spielkultur: Mesut Özil und Lukas Podolski. (Foto: ag.ddp)

Brasilianer, die als "homogenes Kollektiv" beschrieben wurden; Niederländer, die sich "kämpfende Löwen" (Mark van Bommel) nennen; Deutsche, über die brasilianische Fans sagten: "Wir würden gerne so spielen wie Ihr!" - manches geriet durcheinander am Kap. Waren nicht die alten Gewissheiten: Brasilien zaubert am schönsten! Keiner verliert hübscher als Holland! Und keiner siegt galliger als die Deutschen mit ihren Tugenden! Geschadet hat der Traditionsbruch keinem der Chamäleons - bei Brasilien entwertete aber ein einziger grober Abwehrschnitzer im Viertelfinale alle Analysen über neue defensive Festigkeit. Die Seleção hatte bis dahin beste Titelchancen.

Manche Teams wie die Spanier fuhren hingegen gut damit, auf einer bewährten Spielweise zu beharren. Alte Großmächte wie Italien und Frankreich, die mit falschem Stolz im alten Fahrwasser blieben, erlitten Schiffbruch.

Um Veränderung geht es auch auf dem Rasen: um Rhythmuswechsel, Öffnung und Verlagerung des Spiels, um überraschende Beschleunigung in die Tiefe, die wichtiger ist als reines Tempo, weil die Zuspitzung den Gegner kalt erwischt. Es können Überfälle von Tor zur Tor in Sekunden sein, wie bei den Deutschen gegen England. Oder ein Gassenpass aus dem Nichts, wie bei Brasiliens 1:0 gegen Holland (Melo auf Robinho).

Zudem entschlüsselten auch in Südafrika Analysetools jedes Detail, jedes Bewegungsfeld eines Spielers, seine Höchstgeschwindigkeit in Linkskurven bei Ostwind. Und wahrscheinlich weiß Löw sogar, welches Buch gerade die Putzfrau von Fernando Torres liest. In solchen gläsernen Zeiten hatten es Teams schwer, die nur eine berechenbare Spielart im Repertoire haben, wie England, Brasilien, Argentinien (jeder Ball zu Messi) - oder gar kein Konzept, wie Frankreich. Löw entwirft als Wettkampfcoach variable "Wenn-dann-Strategien".

2. ALLESKÖNNER

2006 wurde Italien Weltmeister mit der besten Abwehr. Von den zwölf eigenen Toren der Azzurri fielen sieben nach Standards, drei nach Kontern - schlichte Effizienz. Es galt die alte These: Offensive gewinnt Herzen, Defensive Titel. "Nur mit Defensive gewinnst du heute nichts mehr", hält Löw 2010 dagegen, seine Mannschaft zeigt nun das, was Lahm den "Fußball der Zukunft" nennt: Kurzpässe, Spielwitz durch pfiffige Kicker, die gerne am Ball sind, technische und offensiven Fähigkeiten haben. 1990 gab es im WM-Finale von Rom noch einen Wadlbeißer Kohler und einen Bodyguard Buchwald, der an Maradonas Hosenzipfel hing. Heute folgen alle guten Teams dem Grundsatz: Elf verteidigen, elf greifen an, elf schalten um. Wer das nicht tat, wie Argentinien, war chancenlos.

3. BALLBESITZ

Viele Wege führen nicht nur nach Rom oder Johannesburg - sondern auch: ins Tor. Bei Deutschland sind Zickzack-Konter ein wichtiges Instrument im Werkzeugkasten, zuweilen aber zeigt die Elf auch längere Passketten, und das sieht dann fast ein wenig wie van-Gaal-Fußball aus, obwohl die DFB-Elf anders spielt, oft direkter und schneller Wege in die Tiefe sucht. Schweinsteiger, die Schlüsselfigur, zieht aber mit derselben Präsenz und Passqualität wie in München die Fäden. Löw sieht im einfachen Fußball den genialen: Wer passt, bleibt in der Vorwärtsbewegung, bietet sich sofort wieder tief an - weiter geht's. Auch die Fitness dafür ist vorhanden.

Lange galten Konterüberfälle und englischer Turbofußball als Vorbild. Teams wie Spanien (EM-Titel 2008), Barcelona und FC Bayern haben als zweiten Weg den ausgiebigen Ballbesitz wieder salonfähig gemacht, auch Brasilien und Argentinien zeigten Ansätze davon. "Den Ball zu haben ist die beste Verteidigung", findet Andrés Iniesta, Spanien - und führt im Idealfall zu Lösungen, wie man spielerisch Abwehrbollwerke knackt. Spanien gelang das, nach 61 Minuten zähen Bohrens, beim 1:0 gegen Portugal: Plötzlich war sie da, die Lücke. Tausendmal nix passiert, und dann über neun Stationen: Tikitaka, Tor. Weil sie stiltreu blieben.

Solch ein Angriffsspiel zu studieren, ist im Training viel schwieriger als Verschieben und Zerstören zu schulen. Aufbaukurse über Monate sind nötig, zumal die Beherrschung des Spielgeräts im Fußball viel mehr Präzision voraussetzt als in anderen Sportarten. Trotzdem lohnt es sich wieder, auch das Spiel mit Ball zu planen. Die DFB-Elf zeigt, dass sogar Nationalteams - mit klaren Vorgaben - ein internes Verständnis erreichen können, das fast an Vereins-Kollektive erinnert.

4. MISCHKULTUR

Die Welt, ja, sie staunt über die neue deutsche Angriffsfrische. Dabei hatte die DFB-Elf gegen Argentinien nur 47 Prozent Ballbesitz und verbaute zeitweise als mobile Elf-Mann-Einheit die eigene Hälfte. Nur Offensive führt eben auch zu nichts. Der "Fußball der Zukunft" könnte die Mischung aus allem sein: defensive Ballung und organisierter Kampf im Raum; Konter, bei denen Blöcke von Spielern ausschwärmen wie Vögel nach dem Schuss - aber auch längere Angriffe mit Wechsel zwischen vorbereitendem Querspiel und plötzlichem Steilpass.

Die Grenze zwischen defensivem und offensivem Spiel verwässerte bei dieser WM, was ästhetisch ist - lange oder kurze Pässe, Kontern oder Kreiseln -, ist sowieso Geschmackssache. Spanien nahm sich auch an durchwachsenen Tagen Zeit fürs Positionsspiel, hat aber, man übersieht das oft, auch eine famose Abwehr. Brasilien kreierte aus soldatischer Ordnung sehenswerte schöpferische Momente, konnte vorne plötzlich zubeißen wie eine Schlange. Chile bekam in den ersten zwei Spielen nur sechs Schüsse aufs Tor, die Ausrichtung war aber ultra-offensiv, keiner zeigte mutigeres Forechecking.

5. RÜCKWÄRTSGANG

"Der Fußball im 20. Jahrhundert war eine Reise vom Wagnis zur Angst", schrieb der Literat Eduardo Galeano. Auch 2010 war es über weite Strecken eine WM im Rückwärtsgang, kein Publikumsvergnügen. Vielleicht endet es wieder so wie 1990: dürftige Turnierqualität, überstrahlt von deutschem Glanz.

Oft herrschte der Sicherheitsgedanke, nur nicht zu verlieren. "Die meisten sind hier, um den Gegner zu ärgern. Toreschießen wird immer schwerer", sagte Portugals Trainer Queiroz. Sein dänischer Kollege Olsen wurde zum Selbstankläger: "Es wird hier zu viel mit Berechnung gespielt, auch wir waren ein Teil davon, aber so ist nun mal die Entwicklung, das bedaure ich." Abwehrriegel - zuletzt: Paraguay gegen Spanien - blockierten die Fahrbahnen, manche verteidigten hinten gar mit verkappten Fünferketten (Nordkorea, Algerien), zuweilen bildeten drei defensive Mittelfeldspieler vor der Abwehr einen zweiten Ring. Als Italien gegen Neuseeland an eigenen alten Catenaccio-Waffen scheiterte, klagte Trainer Lippi, es habe nur gefehlt, dass sich auch noch sein Kollege "mit in den Strafraum gestellt" hätte. Viele WM-Teams waren Ergebnismanufakturen. Sie ahnten: Wer das 1:0 schießt, gewinnt; nur in drei von 60 Spielen wurde aus einem 0:1 ein 2:1.

Die Mischung macht's: Stürmer Dirk Kuyt und Sechser Mark van Bommel ergänzen sich bei dieser WM nahezu perfekt. (Foto: afp)

6. STREITER UND STÜRMER

Nichts Neues! In Mode blieben Systeme mit einem Stürmer und kompaktem Mittelfeld. Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal sind heute die defensiven Mittelfeldspieler: Je mehr Sechser, desto mehr Kalkül und Vorsicht. Und für den Stil eines Teams ist es markant, ob diese Sechser kantige Abräumer sind, wie bei Holland van Bommel und Jong, die fast immer hinter dem Ball bleiben - oder gute Fußballer mit kreativem Gestaltungsauftrag, wie Schweinsteiger und Khedira. Weiter vorne sind die Laufwege und Positionen sowieso fließend, nie starr.

Im Trend blieb der Großraum-Angreifer (Forlán, Villa, Müller, Tévez), der auf weiten Wegen streunt statt in der Box auf Pässe zu warten - auch wenn man sich auf diesen Pfaden, wie es Wayne Rooney tat, verzetteln kann. Dessen Trainer Capello sagte, er hätte lieber "elf Spezialisten" als elf Allrounder. Mittelstürmer reinsten Wassers traten kaum in Szene. Es käme überraschend, wenn der vielleicht beste, Spaniens Torres, seine bisher versteckte Klasse im Halbfinale enthüllte; Didier Drogba schied früh aus. Ein paar schöne Striker-Tore gab es dennoch (Luis Fabiano, Vittek, Gyan).

Lionel Messi  in Unterzahl: Zwei deutsche Spieler bearbeiten den argentinischen Dribbler direkt, drei weitere stehen bereit. (Foto: afp)

7. KOLLEKTIV UND SOLIST

Der Systemfußball, jammern Freunde des schönen Spiels, unterdrücke den Individualisten. Das mag stimmen, und wie wichtig das Vermögen einzelner ist, zeigten die wenigen schillernden Figuren des Turniers: Spaniens Torjäger David Villa, Hollands Dribbler Arjen Robben (in Ansätzen), Uruguays Anführer Diego Forlán, oder Schweinsteiger. Allerdings bewies diese WM stichhaltig, dass Ausnahmekönner ohne ein stabiles Teammilieu scheitern. Ribéry ging unter mit Frankreichs Streithähnen, Cristiano Ronaldo war bei Portugal ein eitler Solodarsteller ohne Ziel und Bindung, Rooney fehlte bei England ebenso schlüssiger Service aus dem Mittelfeld wie Weltfußballer Lionel Messi bei Argentinien. Dessen wichtigster Passlieferant, Verón, saß am Ende auf der Bank - warum, weiß nur Maradona.

Trainer, die selber nie vergötterte Spieler waren, begreifen Fußball als Gruppensport mit flachen Hierarchien. Wie Herr Löw aus Freiburg. Oder der von Künstlerseelen umgebene, aber stocknüchterne Niederländer Bert van Marwijk. Teamführung mit strengen Regeln, ohne Sonderrechte für Diven - so hatte schon van Gaal den FC Bayern flott gekriegt. Der war auch nie wirklich ein "Star".

19 Jahre alt und einer der besten Spieler bei dieser WM: Thomas Müller. (Foto: afp)

8. JUGEND

Es gab wie immer junge Entdeckungen, die Welt kennt jetzt: Müller, Özil, Di María (Argentinien), Altidore (USA), dos Santos (Mexiko), Hamsik (Slowakei), Suárez (Uruguay), Sánchez (Chile). Aber auch reifere Posterboys (Schweinsteiger, Rooney, Ronaldo, Messi) sind erst im mittleren Zwanziger-Alter. Das liegt einerseits - alter Hut - an der zunehmenden Dynamik und Athletik des Spiel, die Routiniers weniger gut bekommt: "Es ist wie im Tennis: Becker gegen McEnroe, das war 1986 großer Sport", vergleicht van Marwijk, "aber heute würde diese Geschwindigkeit nicht mehr ausreichen."

Hauptgrund für den Jugendstil ist aber, dass Talente besser ausgebildet werden und früher Topniveau erreichen. Der DFB-Jahrgang 2010 (Schnitt: 24,86 Jahre) fiel nicht vom Himmel. Bei der EM 2000 war ein einziger U21-Junior dabei, Deisler - gegen Argentinien waren es sechs U21-Europameister von 2009. Vor zehn Jahren wurde im damaligen Maltafüßler-Deutschland die Nachwuchsförderung neu strukturiert. Auch individuelle Technik wird seither besser geschult. So wirbeln nun Müllers und Özils, bei denen Geschick am Ball und Tricks wichtiger sind als physische Eigenschaften.

Siegergen: Hollands Wesley Sneijder feiert sein 2:1 gegen Brasilien. (Foto: ap)

9. SIEGER-GEN

Bei aller Bedeutung von Kondition, Können, Taktik, am Ende entscheidet auf hohem Niveau häufig: Emotion, Mentalität, Siegeswille. Man sah Hochbegabte wie Argentinien melancholisch verlieren, auch die ganz auf Sieg gepolten Brasilianer und Portugal hatten in K.o-Spielen keine mentale Stärke, um nach Rückständen zurückzukommen. Eine erfolgreiche Immer-weiter-Gegenwehr zeigte Holland beim 2:1 gegen Brasilien.

10. GLOBALER FUSSBALL

Nationale Schulen, die früher den landestypischen Stil vieler WM-Teams kenntlich machten, verschwinden im globalen Wettbewerb. Prägender sind die Topklubs aus der Champions League, in denen sich nationale und internationale Einflüsse mischen und Spieler aller Kontinente lernen. So verteidigte Brasilien wider sein Samba-Naturell zeitweise wie Inter Mailand. Spanien spielt wie Barcelona, FC-Bayern-Profis übertragen ihre neuen Stilnoten ins deutsche und niederländische Team. England nutzte es wieder wenig, dass aus ihrer gerühmten Premier League die meisten WM-Spieler kamen, denn in vielen dieser Klubs dominieren Ausländer. Die Bundesliga hat inzwischen wieder einen guten Ruf, diesen Trend wird die WM noch forcieren.

Kontinentale Bilanzen bei der WM erwiesen sich als verfrüht. Bis zum Viertelfinale beherrschten die Südamerikaner mit ihrem Mix aus stabiler Abwehr (Paraguay, Uruguay, Brasilien) und kreativem schnellen Spiel. Dann verblieb nur Uruguay, und drei der gescholtenen Europäer zogen ins Halbfinale ein - Fußball ist nicht immer logisch. Afrikaner? Konnten den Heimvorteil nicht nutzen. Außer Ghana, das so tränenreich scheiterte.

11. KUGEL-EVOLUTION

Nicht fehlen darf in der Bilanz Jabulani, jener narrische Ball, der für die Tücken des Material-Fortschritts steht. Ein Spielgerät, das zur taktischen Geheimwaffe wurde, weil es manchmal keinen, manchmal grotesken Drall entwickelte; und die Flugbahn weder für Torhüter noch Freistoßschützen kalkulierbar war - als säße, sagte Argentiniens Konditionstrainer, ein Karnickel in der Kugel. Nein, manchmal ist es nicht erfreulich, dass immer Evolution ist.Moritz Kielbassa

© SZ vom 7.7.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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