Süddeutsche Zeitung

Fußball: WM-Qualifikation:Beitrag von Mesut Özil

Nach dem Aus ihrer Nationalmannschaft überlegen einige Türken, wegen Mesut Özil bei der WM zu Deutschland zu halten. Keine schlechte Idee.

Philipp Selldorf

Alle Völker dieser Erde, deren Nationalmannschaften sich nicht für die Fußball-Weltmeisterschaft qualifiziert haben, verdienen aufrichtiges Mitgefühl. Ein Leben ohne Aussicht auf die WM-Teilnahme der eigenen Mannschaft ist zwar nicht völlig verloren, aber doch weitgehend sinnlos. Das Schlimme ist ja, dass so eine WM nicht nur aus den vier Wochen reinem Spielbetrieb besteht, sondern viele, viele Monate vorher beginnt. Wie die letzten Tage vor den Sommerferien und der Bescherung am Heiligen Abend sind die Monate vor dem Turnier die schönsten.

Man hat mit seinem Team noch kein Spiel verloren und darf unbeschwert fantasieren und debattieren. Jedes Detail ist auf einmal von Belang: Man freut sich darüber, dass der eigene Verband das schönste Team-Quartier mit dem größten Swimmingpool aufgetrieben hat, während die Engländer wieder zu spät kamen; man verfolgt lächelnd die Hiobsbotschaften aus dem Gastgeberland über Bauarbeiterstreiks und dreiste Tarifforderungen der Fluglotsen; und wieder staunt man über die märchenhaften Prämienversprechen des arabischen Verbandschefs, der im Privatleben Multimilliardär ist.

Dieser Monate währende glückbringende Zeitvertreib, der das triste Leben lebenswert macht, bleibt den Türken versagt. Ein Volk, dessen Zeitungen und Nachrichtensendungen überwiegend aus Fußballberichten bestehen, muss jetzt eine gefühlte Ewigkeit lang den Schmerz ertragen, nicht dabei zu sein, wenn die Welt ihr Gipfeltreffen abhält. Kein Deutscher vermag sich das Ausmaß dieses leeren Gefühls vorzustellen, die Deutschen sind in Bezug auf die WM ein glückliches Volk, wofür sie täglich dankbar sein müssten.

Diesmal sollten die Deutschen aber auch den Türken dankbar sein, denn sie haben ihnen Mesut Özil ins Land geschickt. Genauer betrachtet müssen sie zwar seinem Vater Mustafa danken, der erstens die Freundlichkeit hatte, sich in Gelsenkirchen niederzulassen, und zweitens so großmütig war, seinem in Gelsenkirchen geborenen Sohn die Wahl der Ländermannschaft zu überlassen. Aber ohne Türkei kein Mesut Özil, das ist eine Tatsache. Und ohne Mesut Özils Beitrag zum Sieg in Moskau dürften sich die Deutschen womöglich nicht als glückliches Volk ansehen, das sich auf die WM freut.

Nun ist zu hören, dass einige Türken wegen Özil darüber nachdenken, während des Turniers zu Deutschland zu halten. Das ist keine schlechte Idee, um dem Leben wieder Halt zu geben. Und für die Deutschen gäbe es noch einen Grund, sich auf die Weltmeisterschaft zu freuen.

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Quelle:
SZ vom 13.10.2009
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