Zu seiner besten Zeit war Walerij Gassajew ein gefürchteter Stürmer. 70 Tore hat er Anfang der 1980er-Jahre für Dynamo Moskau geschossen und immerhin vier für die Nationalmannschaft der Sowjetunion. Dass seine Angriffslust mit dem Alter stark nachließ, war am vergangenen Donnerstag im russischen Fernsehen zu beobachten. Der 63-Jährige war auserkoren, in der jährlichen Call-in-Sendung des Präsidenten im russischen Fernsehen eine Frage an Wladimir Putin zu richten. Da stand Gassajew mit traurigen Augen, hamsterbäckig und walrossbärtig vor dem Luschniki-Stadion in Moskau, in dem an diesem Donnerstag das Auftaktspiel der WM angepfiffen wird, und schwärmte davon, dass Russland nun "eine Sport-Infrastruktur hat, die in der Welt ihresgleichen sucht".
Gassajew hat wie viele prominente ehemalige Sportler ein Mandat als Parlamentsabgeordneter angenommen; ihm wollte keine richtige Frage an den Präsidenten einfallen. Aber immerhin eine Bitte, die sich an noch höhere Instanzen richtete: Er wünsche dem Präsidenten kräftige Gesundheit. So hatte dann auch die Fußball-WM ihren Platz in Putins großer Sprechstunde gefunden, ohne dass dazu kritische Fragen aufkamen. Etwa: Warum sich Russland die teuerste WM der Historie leistet, während die Armut im Land wächst. Oder was aus den riesigen neuen Stadien in Saransk oder Kaliningrad einmal werden soll, wo sich bisher im besten Fall ein paar Tausend Zuschauer die Spiele der heimischen Vereine ansahen. Oder die Frage, wer an diesem gigantischen Spektakel eigentlich verdient.
Russland ohne Ambitionen - zumindest sportlich
Die Stimmung im Gastgeberland ist zum Start ein bisschen wie bei einem Hochzeitsfest: Ja, das ist alles Irrsinn, viel teurer, als wir uns das eigentlich leisten könnten. Aber hey: Das Geld ist jetzt eh futsch, dann lasst uns wenigstens feiern und Spaß haben, die Gäste sollen noch nach Jahren davon sprechen! Auf diese Haltung können sich letztlich alle einigen: die Gastgeber, die Fans, die Fifa und natürlich der Kreml.
Anders als bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi vor vier Jahren startet Russland ohne besondere Ambitionen in das Turnier. Ein Triumph ist praktisch ausgeschlossen, da helfen auch keine Mittel und Tricks. Leider habe die russische Mannschaft in letzter Zeit keine guten Ergebnisse gezeigt, räumte Putin vergangene Woche in einem Interview mit dem chinesischen Fernsehen ein. Dennoch hoffe er mit allen russischen Fans, dass die Sbornaja einen würdigen Auftritt hinlege und bis zum Schluss kämpfe.
Der Sieg ist diesmal schon, dass Russland das Mega-Event überhaupt zugesprochen bekam und dieses tatsächlich ausrichten kann; an den elf Spielorten werden mehr als eine halbe Million Besucher aus dem Ausland erwartet. "Das wichtigste Ziel ist es, dass wir als Organisatoren und Gastgeber dieser Veranstaltung eine würdige WM durchführen, damit sie zu einem Fest wird für Millionen Fußballfreunde auf der ganzen Welt", sagte Putin. Nach allem, was in den vergangenen Jahren passiert ist - Krim-Annexion, Ukrainekrieg, Syrienkrieg, Wirtschaftskrise, Hacker-Attacken, Nervengift - soll Russland sich und der Welt beweisen: Wir haben die Kraft, solch ein Ereignis zu stemmen. Und wir sind auch nicht isoliert, sondern das Zentrum der Welt. Zumindest sportlich. Zumindest für vier Wochen.
Putin hat die Bedeutung von Sport als politische Langzeitinvestition früh erkannt; seine Vertrauten reden heute in allen wichtigen internationalen Sportverbänden mit. Kein Jahr vergeht, in dem nicht ein sportliches Großereignis in Russland ausgetragen wird. Die Leichtathletik-WM 2013 in Moskau, die Judo-WM 2014 in Tscheljabinsk, die Olympischen Winterspiele und der erste Formel-1-Grand-Prix im selben Jahr in Sotschi, 2015 die Schwimm-WM in Kasan, 2016 die Eishockey-WM in Moskau und in Sankt Petersburg und nun, als Krönung gewissermaßen, König Fußball.
Ein Problem bei Langzeitinvestitionen ist nur, dass sich schwer vorhersehen lässt, in welcher Zeit die Früchte reif werden. In der Politik verschieben sich die Gewichte gerade schneller, als Stadien gebaut werden. Als Russland am 2. Dezember 2010 den Zuschlag für die Fifa-WM bekam, war die Welt noch eine andere. In den USA regierte Barack Obama, der einen Neustart mit Russland anstrebte. Der Augenblick dafür schien günstig zu sein, immerhin saß im Kreml gerade Dmitrij Medwedjew, der als liberaler und aufgeschlossener galt. Putin hatte sich scheinbar auf den Premiersposten zurückgezogen. Trotzdem herrschte zunächst Fassungslosigkeit, als der damalige Fifa-Präsident Sepp Blatter bei der Vergabezeremonie in der Züricher Messehalle für die WM 2018 Russland und für das Turnier 2022 Katar präsentierte. Putin hatte die Veranstaltung von Moskau aus verfolgt. Die Entscheidung zeige, "dass Russland vertrauenswürdig ist, und sie sagt viel aus über unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten und unsere politische Stabilität", ließ er ausrichten.
SZ-Podcast "Steilvorlage":Putins Weltmeisterschaft
Russland ist Gastgeber der Fußball-WM 2018. Johannes Aumüller und Thomas Kistner sprechen im Podcast darüber, warum es so viel Kritik an dem Turnier gibt, wie große Sport-Events der Politik nutzen - und wie sich deutsche Spieler verhalten sollten.
Doch schnell keimten Zweifel, ob bei der Vergabe wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen war. Der Fifa-Ermittler Michael Garcia deckte zahlreiche Ungereimtheiten auf: Der zypriotische Funktionär Marios Lefkaritis machte Geschäfte mit Gazprom, Franz Beckenbauer wurde, nachdem er seine Stimme abgegeben hatte, zum bezahlten Sportbotschafter des Konzerns. Und die Computer des russischen Bewerbungskomitees wurden zerstört, bevor die Ermittler Daten auswerten konnten.
Fußballfest einer gekränkten Nation
Nun, acht Jahre später, hat Putin die politische Stabilität zwar gerade demonstriert, indem er sich mit Rekordergebnis eine vierte Amtszeit im Kreml absegnen ließ. Aber das Wort "vertrauenswürdig" wurde im Zusammenhang mit Russland zuletzt nur noch selten gebraucht. Vielmehr haben die Annexion der Krim, der Abschuss des Fluges MH17, das systematische Staatsdoping bei den Winterspielen 2014 und die Bomben auf syrische Krankenhäuser ein ums andere Mal die Frage aufgeworfen, ob das Fußballfest nicht vielleicht besser anderswo gefeiert würde. Auch die "wirtschaftlichen Möglichkeiten" werden heute anders bewertet. Eigentlich sollte die Fußball-WM helfen, die Infrastruktur in Russland zu verbessern. Aber dann kamen die Krise und der niedrige Ölpreis. Programme für neue Straßen, Flughäfen und Schnellbahnstrecken wurden zusammengestrichen. Gebaut wurde schließlich nur, was für die WM unbedingt notwendig ist - und danach vielleicht nie wieder gebraucht wird.
Das Kräftemessen mit anderen Nationen ist in den vergangenen Jahren zu einem Hauptmotiv in der russischen Politik und den russischen Medien geworden. Eine gekränkte Nation zeigt der Welt, dass man mit ihr rechnen muss. Ein Fußballfeld ist dafür eine vergleichsweise harmlose Bühne. Bleibt die Frage, wie es danach weiter geht. Denn das Turnier ist nicht nur der Höhepunkt in der Reihe von Sportgroßereignissen. Es ist auch der vorläufige Schlusspunkt. Veranstaltungen dieser Dimension ins Land zu holen, wird in Zukunft nicht einfach werden.