Fußball-WM:Genosse Lenin leidet

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Als Statue kann man die Augen nicht verschließen, und so sieht der Lenin vor dem Luschniki-Stadion in Moskau zu seinen Füßen: den offiziellen Fifa-WM-Shop mit den Logos von Adidas und Visa. (Foto: Federico Gambarini/dpa)

Vor dem Luschniki-Stadion in Moskau steht eine Statue von Wladimir Iljitsch Uljanow. Sie muss mit ansehen, wie sich der Kapitalismus zu ihren Füßen ausbreitet.

Glosse von Martin Schneider, Moskau

Wladimir Iljitsch Uljanow, der in der Spiegelgasse in Zürich und in München-Schwabing lebte, in einem plombierten Zugabteil aus der Schweiz durch Deutschland nach Russland fuhr, der nach seinem Tod zahlreichen Statuen Modell stand und der in einem Mausoleum in Moskau auch noch sein eigenes Denkmal geworden ist oder werden musste, Wladimir Iljitsch Uljanow also hat viel gesehen.

Sein Kopf oder sein Körper ist über ganz Russland verteilt, die offizielle Datenbank führt 5311 Lenin-Skulpturen und Büsten zwischen Kaliningrad und Wladiwostok, die nördlichste auf der norwegischen Insel Spitzbergen in der mittlerweile aufgegebenen russischen Bergarbeitersiedlung Pyramiden, wo der Genosse zweieinhalb Monate gar nichts sieht, weil Polarnacht ist.

Früher gab es Opium fürs Volk, jetzt amerikanisches Bier für Fußballfans

Als Statue kann man die Augen ohnehin nicht verschließen, und so sieht der Lenin vor dem Luschniki-Stadion in Moskau zu seinen Füßen: den offiziellen Fifa-WM-Shop mit den Logos von Adidas und Visa. Zu seiner Rechten stehen Coca-Cola-Schirme, zu seiner Linken wird Budweiser ausgeschenkt. "Freiheit ist ein Vorurteil der Bourgeoisie", soll der Revolutionär einmal gesagt haben, und wenn diese Freiheit unterm Strich zu solchen Getränken führt, dann kann man das ja vielleicht mal wirklich überdenken. Früher gab es Opium fürs Volk, jetzt amerikanisches Bier für Fußballfans.

"Die Wahrheit ist immer konkret", sagte der Genosse außerdem, und die Wahrheit ist in diesen Tagen: Das Proletariat kauft lieber überteuerte T-Shirts mit Wolf-Maskottchen, anstatt die Ketten verlieren zu wollen. Wobei: Die T-Shirts gibt's immerhin auch in Rot. Und theoretisch könnte man mit dem offiziellen, in Pakistan hergestellten WM-Ball für 149,95 Euro das Stück die Scheiben des Winterpalais einschießen.

Als Statue bewahrt man wenigstens Haltung, weil man halt nicht anders kann, und würde sie höchstens verlieren, wenn einem der Kapitalismus in seinem Triumph noch eine offizielle Fifa-Mütze aufsetzt. Der Vorteil des Mausoleums ist da eindeutig: Die Leute könnten wenigstens sehen, wenn man sich im Grab umdreht.

© SZ vom 19.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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