Halbfinale bei der Fußball-WM:Marokko weiß jetzt, woran es noch fehlt

Halbfinale bei der Fußball-WM: Nachdem Abpfiff ist die Enttäuschung bei Achraf Hakimi und Romain Saiss greifbar.

Nachdem Abpfiff ist die Enttäuschung bei Achraf Hakimi und Romain Saiss greifbar.

(Foto: Robert Michael/dpa)

Auf zu neuen Grenzen: Marokko scheitert zwar im Halbfinale an Frankreich, der Erfolg bei dieser WM dürfte trotzdem nachwirken - auch in der Karriereplanung einzelner Spieler.

Von Sebastian Fischer, al-Chaur

Marokko ist jetzt ausgeschieden, aber in Gedanken ist Marokko im Finale immer noch dabei. Man kann sich jedenfalls schwer vorstellen, dass Frankreichs Angreifer Kylian Mbappé dieses Tackling von Sofyan Amrabat wieder vergisst, eine Grätsche nach allen Regeln der Kunst und gegen alle Regeln der Logik.

Es war eine der spektakulärsten Szenen dieser WM, wie Amrabat zu Beginn der zweiten Hälfte des Halbfinals den Rücken durchdrückte und zu einem Sprint ansetzte, um den schnellsten unter den begabtesten Fußballern der Welt am marokkanischen Strafraum noch einzuholen. Als er in der Nähe war, sprang er mit dem rechten Fuß voran ab, traf den Ball, dann fiel Mbappé und überschlug sich. Amrabat lief schon wieder weiter, um den Ball, den er im Aufstehen an der Torauslinie im Spiel gehalten hatte, wieder nach vorne zu führen.

Amrabat, 26, ist der Fußballer, der Marokkos Leistung bei diesem Turnier am eindrücklichsten verkörpert hat, mit seiner Zweikampfstärke, seiner Laufleistung und bei allem Eifer auch seiner Raffinesse. Er war vorher nicht unbekannt, er ist beim AC Florenz unter Vertrag, aber so sehr im Mittelpunkt stand er noch nie. Und damit ist er längst nicht der einzige in der marokkanischen Mannschaft. Azzedine Ounahi, Amrabats leichtfüßiger Mitspieler im Mittelfeld von SCO Angers, ist noch so ein Beispiel. Dass sie in den kommenden Wochen keine Angebote größerer Klubs erhalten, kann man sich kaum vorstellen.

Halbfinale bei der Fußball-WM: Mann, fliegt der schön: Der Marokkaner Sofyan Amrabat versteht nach seinem Tackling nicht so richtig, was seinem französischen Gegenspieler Kylian Mbappé passiert ist...

Mann, fliegt der schön: Der Marokkaner Sofyan Amrabat versteht nach seinem Tackling nicht so richtig, was seinem französischen Gegenspieler Kylian Mbappé passiert ist...

(Foto: Robert Michael/dpa)
Halbfinale bei der Fußball-WM: Nach mir die Sintflut: Sofyan Amrabat versucht, vom Tatort zu fliehen.

Nach mir die Sintflut: Sofyan Amrabat versucht, vom Tatort zu fliehen.

(Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

Walid Regragui, der Trainer, ist auch nach dem 0:2 gegen Frankreich von den marokkanischen Journalisten mit Applaus empfangen worden, er hat einmal mehr die Bedeutung des ersten Halbfinaleinzugs eines afrikanischen Teams hervorgehoben, die Spieler gelobt und Ambitionen für Marokkos fußballerische Zukunft formuliert. Zum Afrika-Cup im Januar 2024, dem nächsten großen Turnier, sagte er etwa: "Die Leute erwarten jetzt, dass wir gewinnen."

Der Plan von Trainer Regragui war Marokkos Personalsituation geschuldet

Was seine Leistung bei dieser WM betrifft, ging es nach der ersten Niederlage erstmals um einen möglichen Fehler. Vor dem Spiel hatte er angekündigt, die Mannschaft werde ihren Stil auch gegen Frankreich fortführen, also auch gegen den Titelverteidiger in der eigenen Hälfte verteidigen und kontern. Nach dem frühen 0:1 war dieser Plan hinfällig: Es verteidigte und konterte nun Frankreich.

Regraguis entscheidender Beitrag zum Spiel war die Nominierung einer Fünferkette in der Abwehr zu Beginn, aber erst nach der Umstellung auf die gewohnte Viererkette in der Halbzeit wirkte Marokko gefestigter. Er erklärte die Aufstellung unter anderem mit der Überlegung, den Flügelspielern Mbappé und Ousmane Dembélé die Außenverteidiger Achraf Hakimi und Noussair Mazraoui entgegenzusetzen. Hakimi, Teamkollege von Mbappé bei Paris Saint-Germain, machte das gewohnt hervorragende Spiel, Mazraoui vom FC Bayern blieb zur Pause draußen.

Der Plan war auch der Personalsituation geschuldet: Stamm-Innenverteidiger Nayef Aguerd fehlte erkrankt, Innenverteidiger und Kapitän Romain Saïss ging angeschlagen ins Spiel, zwei Innenverteidiger sollten ihm helfen. Er musste dann aber schon nach 21 Minuten verletzt ausgewechselt werden. Vor dem Hintergrund solcher Probleme wirkte es mehr als respektabel, wie sich die Marokkaner gegen die schier unüberwindliche französische Abwehr ein paar Chancen erspielten, darunter auch große: Jawad El Yamiq, mit einer fehlgeschlagenen Grätsche zu großen Teilen verantwortlich in der Entstehung des 0:1, traf mit einem Fallrückzieher den Pfosten.

Das Turnier ist für Marokko noch nicht ganz vorbei, es gibt ja noch das Spiel um Platz drei

In der zweiten Halbzeit vergab der eingewechselte Abderrazak Hamdallah die beste Gelegenheit, als er einen seltenen Aufenthalt im meistens versperrten französischen Strafraum nicht für einen Abschluss nutzte, sondern stattdessen wie ein Kleinfeldfußballer mit dem Ball herumfummelte. Zu seiner Verteidigung konnte man sagen, dass er es immerhin besser machte als Stamm-Angreifer Youssef En-Nesyri, der bis zu seiner Auswechslung nach einer Stunde auf ganze drei Ballkontakte kam.

Marokkos Team ist an seine Grenzen gestoßen, mehr als die Hälfte der Spieler lag nach dem Schlusspfiff erst mal auf dem Rasen, enttäuscht und erschöpft. Aber sie sind dann bald aufgestanden, versammelten sich für eine kurze Ansprache im Mittelkreis und gingen in Richtung ihrer schon wieder feiernden Fans, die dieses Turnier bis zuletzt zu einer arabischen Heim-Weltmeisterschaft machten. Würden die Stadien nicht wie Großraumdiskotheken beschallt, wäre nicht das offenbar unvermeidliche "Freed from desire" durch das Al-Bayt-Stadion gewummert, es wäre ein noch etwas würdigerer Rahmen gewesen.

Frankreichs Staatspräsident Macron zeigt sich nicht nur in der französischen, sondern auch in der marokkanischen Kabine. Amrabat umarmt er

Das Turnier ist für Marokko noch nicht ganz vorbei, es gibt ja noch das Spiel um Platz drei. Aber wenn man Regragui richtig verstand, werden dafür nicht um jeden Preis die Protagnisten der vergangenen Wochen gebraucht. Gegen Kroatien am Samstag dürften auch jene Spieler zum Einsatz kommen, die bisher nur draußen saßen. "Wir haben viele Verletzte, wir sind erschöpft", sagte der Trainer.

Amrabat wurde bereits für das Achtelfinale gegen Spanien mit einer Spritze gegen seine Schmerzen präpariert, bis tief in die Nacht behandelt, er erzählte selbst davon. Das Spiel gegen Frankreich endete für ihn damit, dass er kurz vor dem Schlusspfiff beim Dribbling den Ball verlor und ihm mit den Händen voraus hinterhersprang, es war beim Stand von 0:2 schon egal.

Was er geleistet hat, das hatte sich wohl vorher schon herumgesprochen. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron nutzte die Gunst der Stunde, um sich nicht nur in der französischen, sondern auch in der marokkanischen Kabine zu zeigen. Amrabat umarmte er. Angeblich, so twitterte es der italienische Sportjournalist Fabrizio Romano, nannte er ihn "den besten Mittelfeldspieler des Turniers".

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