England bei der Fußball-WM:Voller Selbstzweifel nach Katar

England bei der Fußball-WM: Was soll schon schiefgehen? Englands Kapitän Harry Kane (Zweiter von links).

Was soll schon schiefgehen? Englands Kapitän Harry Kane (Zweiter von links).

(Foto: Martin Rickett/PA Images/Imago)

Auf dem Papier sollte England zu den WM-Favoriten gehören - doch die heimische Öffentlichkeit äußert vor allem Bedenken. Dabei stehen die Chancen eigentlich so gut wie nie.

Von Sven Haist, Doha

Vermutlich wäre es gut gewesen, wenn jemand den Engländern übersetzt hätte, was der deutsche Nationalspieler Thomas Müller nach der WM-Generalprobe zwischen beiden Ländern im Rahmen der Nations League vor ungefähr zwei Monaten zu sagen hatte. Trotz eines bis dahin stark durchwachsenen Länderspieljahres des DFB-Teams mit nur einem Sieg aus sieben Partien stellte sich Müller mit der selbstgewissen Attitüde eines Seriensiegers im Wembley Stadium, dem Heiligtum des Inselfußballs, vor die Kameras und tönte, ihn würden die Vorergebnisse des Turniers herzlich wenig interessieren, weil es sich dabei "nicht um die große Bühne" handele.

Er, Müller, vertraue darauf, dass Deutschland beim Weltturnier in Katar sowieso wieder "den Turniermannschaftsmythos" aufleben lasse. Was er damit meinte: Wir sind die Deutschen! Wir wissen, wie man gewinnt! Und wir werden da sein, wenn es drauf ankommt!

Es ist ein großes Pfund der Deutschen bei Weltmeisterschaften, das Turnier bereits vier Mal gewonnen zu haben. Die Erfolge aus der Vergangenheit wirken bis in die Gegenwart nach - sowohl nach innen als auch nach außen: Sie fördern das Selbstbewusstsein und schaffen eine Aura. Dieses Urvertrauen in die eigene Stärke ist eine der sogenannten deutschen Tugenden, die sich weder antrainieren noch kaufen lässt, sondern die sich nur über Siege einstellt - und eine, an der die Engländer verzweifeln. Im Mutterland des Fußballs würde man sich ebenfalls gern zurufen, dass alles gut ausgehen wird. Doch welche Legende sollen die Engländer bemühen, die nie ein Turnier außerhalb der Landesgrenzen gewonnen haben? Und selbst der einzige WM-Heimsieg 1966 liegt mittlerweile mehr als 56 Jahre zurück.

Kapitän Harry Kane fehlen nur noch zwei Tore, um zum Rekordschützen Wayne Rooney aufzuschließen

Wenn es bei den Three Lions eine Art wiederkehrenden Turniermythos gibt, dann, dass es von fast jedem Großereignis bisher mit Schimpf und Schande frühzeitig nach Hause ging - und das oft, weil ein Elfmeterschießen verlorenging. Nur so lässt sich einigermaßen nachvollziehen, warum England trotz seiner exponierten Stellung als Mitfavorit auf den Weltpokal voller Selbstzweifel im Gepäck in Doha angekommen ist. Dabei müsste die Fußballnation vor dem Auftaktspiel am Montag gegen den Iran (ehe es gegen die USA und Wales geht) diesmal eigentlich gar keine haben.

England bei der Fußball-WM: Warum so ernst? Eigentlich könnte das englische Team von Trainer Gareth Southgate (hinten links) voller Zuversicht ins Turnier starten.

Warum so ernst? Eigentlich könnte das englische Team von Trainer Gareth Southgate (hinten links) voller Zuversicht ins Turnier starten.

(Foto: Nick Potts/PA Images/Imago)

Englands Nationalteam gehört mit einer Reihe von internationalen Spitzenspielern und zahlreichen hochbegabten Jungprofis zu den auf dem Papier besten Auswahlmannschaften der Welt. Anders als bei vorherigen Turnieren halten die Akteure untereinander zusammen und stehen sich nicht aufgrund etwaiger Klubressentiments im Streit gegenüber. Der Geschlossenheit des Kaders liegt die sechsjährige Amtszeit des Trainers Gareth Southgate zugrunde, der auf kaum etwas mehr Wert legt als auf Kameradschaft und Loyalität. Nach dieser Prämisse hat er auch diesmal seine Auswahl zusammengestellt, die Kapitän Harry Kane anführt. Ihm fehlen nur noch zwei Tore, um zu Wayne Rooney aufzuschließen, dem Rekordtorschützen des Landes mit 53 Treffern. Auf der 26 Mann umfassenden Kaderliste stehen vor allem diejenigen Spieler, denen Southgate seit Jahren vertraut, mit denen er Höhen und Tiefen durchlebt hat. Lediglich fünf Akteure weichen ab von der Liste, die er zuletzt für die EM eingereicht hatte.

Angesichts der nur einwöchigen Vorbereitung bleibt fast keine Zeit für neue und vor allem gewagte Ideen. Ein Umstand, der dem fundiert und gewissenhaft vorausplanenden Southgate besonders entgegenkommen dürfte. Seine Entscheidungen haben bisher Hand und Fuß gehabt, sie führten England zu Platz vier bei der WM 2018 und zu Platz zwei bei der EM 2021. Sie stehen im scharfen Kontrast zu seinen auf diesem Gebiet allesamt nachlässigen Vorgängern. Das fängt schon bei der Wahl der Unterbringung an: Die Engländer schlugen ihr Quartier als eines von nur fünf Ländern neben Belgien, Deutschland, Mexiko und Saudi-Arabien entspannt am Meer auf.

Die Nobelherberge Souq Al Wakra liegt im Küstenviertel al-Wakra, eine halbe Autostunde südlich des Trubels von Doha, und verbindet die heimische Tradition mit modernen Annehmlichkeiten. Das Hotel besteht aus prächtig erhaltenen historischen Häusern mit klassischen Strohdächern und zum Verweilen einladenden Innenhöfen, bietet einen Wellnessbereich, Massage- und Fitnesseinrichtungen sowie einen Privatstrand. Einige der Abende verbrachte das Team unter freiem Himmel, um sich Kinofilme auf Leinwänden anzusehen. Das Trainingsgelände befindet sich fast nebenan, was den Engländern unliebsame Fahrten im dichten Stadtverkehr erspart - ganz anders als noch bei der WM 2014 in Brasilien. Dass es nicht zu gemütlich wird, schließt schon die Trainingsplanung aus. Sowohl am Donnerstag als auch am Freitag bat Trainer Southgate die Spieler in der Mittagshitze zu einer Einheit, um sich an die drückenden Temperaturen zu gewöhnen. Denn das Match gegen den Iran steigt um 16 Uhr Ortszeit - bei mehr als 30 Grad.

Sind Englands hochgelobte Talente wirklich so berauschend gut?

Mehr als gegen die klimatischen Bedingungen in Katar und die übrigen 31 Turnierteilnehmer scheint England einmal mehr gegen sich selbst anzutreten. Aus der Verunsicherung heraus, bei so vielen Turnieren hinter den eigenen Erwartungen zurückgeblieben zu sein, dreht die Öffentlichkeit auf der Insel derzeit jeden Stein gleich doppelt um. Die Bedenken äußern sich seit Wochen und Monaten in Schlagzeilen, die ohne große Skrupel Spieler wie Trainer infrage stellen.

England ist sich pünktlich zum Turnierstart offenbar nicht mehr so sicher, ob all seine seit geraumer Zeit hochgelobten Talente wirklich so berauschend gut sind, wie es immer gedacht oder besser gehofft hatte. Und Southgate versuchen die heimischen Medien sogar die Aufstellung in den Notizblock zu diktieren, weil sie ihm diese wohl nicht mehr zutrauen. Die Zeitung The Times schrieb, England könnte das Halbfinale erreichen, wenn Southgate "mutig" sei - falls er jedoch "konservativ" agiere, dürfte es nicht zu mehr als dem Viertelfinale reichen. Und das Konkurrenzblatt The Guardian meint allen Ernstes: Für Southgate heiße es in Katar: jetzt oder nie.

Die meisten Medienbeiträge lesen sich, als wisse England einmal mehr genau, worauf es ankommt - um nicht zu gewinnen. Dabei stehen die Chancen eigentlich so gut wie nie, dass es endlich mal wieder etwas gewinnt.

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