Fußball-WM:Den einen droht Gelb, den anderen Gewalt

Fußball-WM: Elf Spieler, keiner singt: Irans Nationalmannschaft vor dem Spiel gegen England.

Elf Spieler, keiner singt: Irans Nationalmannschaft vor dem Spiel gegen England.

(Foto: Joel Marklund/Imago)

Während Englands Kapitän Harry Kane beim 6:2 gegen Iran auf die "One Love"-Binde verzichtet, senden die iranischen Spieler ein Zeichen in die Heimat: Sie singen die Nationalhymne nicht mit.

Von Claudio Catuogno, al-Rayyan

Harry Kane hatte noch seine Trainingsjacke an, als die Kamera während der englischen Nationalhymne ganz nahe an ihn heranzoomte. Die Binde war nicht zu sehen. Und trotzdem war es kein Geheimnis mehr, welches Stück Stoff Kane sich kurz vor dem Spiel über den Oberarm gekrempelt hatte - und welches nicht. Als die Engländer dann Aufstellung nahmen für ihr Auftaktspiel gegen Iran, war sie dann auch zu besichtigen: die offiziell lizenzierte Binde der Fifa mit dem offiziellen Kampagnen-Hashtag #NoDiscrimination.

Keine Diskriminierung. Ein Slogan, gegen den niemand etwas haben kann - der aber auch niemandem mehr etwas bedeuten darf, der die Geschehnisse der vergangenen Tage verfolgt hat. Erst die Ankündigung Kanes, wie die Kapitäne anderer europäischer Teams auch, in Katar die bunte "One Love"-Binde zu tragen, als Zeichen gegen Diskriminierung jeder Art, was Englands Verband FA schon vor Wochen an die Fifa gemeldet hatte. Dann keine Reaktion vom Weltverband. Und am Tag vor dem Anpfiff die Androhung sportlicher Sanktionen für den Fall, dass nicht das offizielle Stück Fifa-Stoff am Ärmel hängt.

Eine explizite Strafandrohung, um ein Zeichen gegen Diskriminierung zu verhindern? Ja, genau. Und gleich darauf teilte die Fifa noch mit, sie gebe den Kapitänen "die Möglichkeit", schon in der Vorrunde ein Zeichen gegen, genau, Diskriminierung zu setzen. Eigentlich war der Hashtag #NoDiscrimination nämlich erst für die Viertelfinals vorgesehen. Was aber egal ist, denn übrig bleiben ohnehin nur ein paar Buchstaben. Das Anliegen selbst ist komplett entwertet.

Dann schwenkte die Kamera weiter, zur Mannschaft Irans. Und nun konnte man sehen, dass Haltung und Mut doch nicht komplett aus dem Fußball verschwunden sind. Die iranische Hymne wurde gespielt - und die iranischen Spieler schwiegen. Alle. Auch auf den Rängen war von Respekt vor der Hymne nichts zu hören: Viele Fans schrien, andere pfiffen. Einer Frau mit Kopftuch liefen die Tränen die Wangen hinab - möglicherweise hielten die Bildregisseure es für dem Fußball geschuldete Rührung, jedenfalls zeigten sie die Szene. Anders als später Plakate mit Slogans wie "Freiheit für Iran" oder "Frauen - Leben - Freiheit".

Irans Staats-TV schaltet auf die Stadiontotale, als klar ist, dass die Spieler nicht singen

Schweigen zur Hymne, nachdem Regierungskreise in Iran das Mitsingen eingefordert hatten: Es war wohl so ein Zeichen, das sich viele Menschen in Iran von ihrer Mannschaft erwartet hatten. Die Spieler tragen das Wappen, aber sie gehen auf Distanz zum Regime, das zuhause seit Monaten die Reformbewegung niederschießt und niederknüppelt, derzeit so brutal wie lange nicht. Irans Staats-TV schaltete auf die Stadiontotale um, als klar war, dass die Spieler nicht singen - aber über Social Media werden sich die Bilder trotzdem im Land verbreiten. Und auch wenn viele Iranerinnen und Iraner mit dieser Mannschaft schon abgeschlossen haben, weil sie kurz vor der Anreise einen Termin beim Staatspräsidenten Ebrahim Raisi nicht ausschlug (und dort sogar gut gelaunt wirkte): Es waren am Montag in al-Rayyan die Iraner, die nach Tagen des Diskutierens über eine bunte Binde die Maßstäbe wieder zurechtrückten.

Was hätte Harry Kane gedroht, hätte er sich über die Fifa-Anordnung hinweggesetzt? Eine gelbe Karte, vielleicht eine andere sportliche (!) Repression - konkret ist die Fifa da nicht geworden, denn das Regelwerk gibt da auch wenig her. Und was droht den Spielern in Iran? Was droht ihren Landsleuten? Eben. Mehr als nur sportliche Repressionen. So viel also zu den Symbolen in diesem hochpolitischen Spiel bei dieser hochpolitischen Weltmeisterschaft, zu den abgeblasenen und den durchgezogenen. Aber noch ein Wort zu den unfreiwilligen: Gleich nach der iranischen Hymne spielte die Fifa-Regie "The Business" von Tiesto ein. "Let's get down, let's get down to business."

Das Spiel? Ja, es rollte der Ball, so wie der Fifa-Präsident Gianni Infantino sich das gewünscht hat, weil es "das ist, was die Menschen wirklich wollen". Dann rollte der Ball aber bald minutenlang nicht mehr: Der iranische Torwart Beiranvand war beim Abwehren einer Harry-Kane-Flanke mit einem Mitspieler zusammengeprallt, lag auf dem Rasen, blutete aus der Nase, war benommen, stand irgendwann auf, torkelte, ließ sich wieder fallen. Ein blutiges T-Shirt, jetzt auch auf dem Rasen - wer noch ein Bild dafür gesucht hatte, dass es gerade wirklich nicht gut läuft für die Iraner, der hatte jetzt auch hier noch eins.

Fußball-WM: "No discrimination" statt "One Love": Englands Kapitän Harry Kane mit Binde - und abgeschwächter Botschaft.

"No discrimination" statt "One Love": Englands Kapitän Harry Kane mit Binde - und abgeschwächter Botschaft.

(Foto: Javier Garcia/Shutterstock/Imago)

Dann lief es, wie es zu erwarten war. England führte schon zur Pause 3:0 durch Tore von Bellingham (35.), Saka (43.) und Sterling (45+1.), in der zweiten Hälfte trafen Saka (62.), Rashford (71.) und Grealish (90+1.). Und weil der Iraner Taremi einmal aus dem Spiel heraus (65.) und einmal per Foulelfmeter verkürzte (90+13.), endete die Partie 6:2. Was die Mannschaft von Gareth Southgate noch nicht in den Rang eines Titelfavoriten hebt - aber sie ist gut drauf. Als nächstes geht es gegen die USA, dann rollt vielleicht wirklich mal nur der Ball.

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