Fußball-WM:England bezwingt sein Trauma

Fußball-WM: Alle herzen Torhüter Jordan Pickford: Die Engländer feiern den Sieg im Elfmeterschießen.

Alle herzen Torhüter Jordan Pickford: Die Engländer feiern den Sieg im Elfmeterschießen.

(Foto: AP)

Von Johannes Aumüller, Moskau

Eric Dier lief an, er zielte in die linke Ecke und schoss platziert - und dann war Englands schier ewiger Fluch endlich beendet. Seit mehr als zwei Jahrzehnten hatten die Three Lions darauf gewartet, bei einem großen Turnier ein Elfmeterschießen zu gewinnen. 1996 waren sie an Deutschland gescheitert, 1998 an Argentinien, 2004 und 2006 an Portugal und 2012 an Italien. Und nun also 2018 - ein 4:3 im Elfmeterschießen im WM-Achtelfinale gegen Kolumbien.

Quer über den Platz rannten die Spieler und versammelten sich zu einer riesigen Jubeltraube, aus den Stadionboxen erklang "Football's coming home", Englands Fußballhymne - und Trainer Gareth Southgate herzte am Spielfeldrand sein Betreuerteam. Southgate war ja als Spieler selbst unter den zwölf Fehlschützen der vergangenen Elfmeterschießen gewesen, 1996 scheiterte er an Andreas Köpke. Und vieles hatte er in den vergangenen Wochen unternommen, um endlich diese "englische Krankheit", wie die Times schrieb, zu besiegen. Allerhand Tricks und Spielereien hatte er sich ausgedacht, um seine Spieler vorzubereiten auf diese Situation. Selbst den Gang von der Mittellinie zum Elfmeterpunkt hatten sie simuliert und die Geschwindigkeit angepasst. Und dann glückte diese Operation auch noch - auf eine besonders dramatische Weise.

Als Erstes schießt Kolumbiens Falcao: drin. Dann Harry Kane für England: ebenfalls drin. Cuadrado trifft, Rashford trifft, Muriel trifft. Dann kommt Henderson und schießt den Torwart an, da sieht es schon nach einer Verlängerung des englischen Elfmeter-Fluchs aus. Aber es hat keine Konsequenzen, weil Uribe seinen Versuch an die Latte donnert. Trippier trifft, Bacca scheitert an Englands Torwart Jordan Pickford. Und dann kommt dieser Eric Dier, 24 Jahre alt, Defensivspieler von den Tottenham Hotspur - und England darf nicht nur den ersten Sieg im Elfmeterschießen seit 1996 bejubeln, sondern auch den ersten Sieg in einem K.-o.-Spiel eines großen Turnieres seit 2006. Jetzt geht es im Viertelfinale gegen Schweden.

"Ich bin froh, dass ich der Mannschaft als Torwart so helfen konnte. Das ist unglaublich, aber wir haben verdient gewonnen", sagte Torwart Pickford. Und der Siegtorschütze Dier bekannte: "Ich war nervös, ich war noch nie in so einer solchen Situation. Ich bin dankbar, dass ich getroffen habe, ein großartiger Augenblick."

Die Kolumbianer hatten auf Offensivspieler James Rodríguez (Wadenverletzung) verzichten müssen, die Engländer wiederum begannen diese Partie mit gleich neun personellen Veränderungen im Vergleich zum dritten Gruppenspiel gegen Belgien. Gegen die Belgier war ja nur die B-Elf zum Einsatz gekommen, vordergründig um die Stammspieler zu schonen, und hintergründig auch mit der Idee, in die vermeintlich leichtere Hälfte des Tableaus zu rutschen. Dabei hatte sich Southgate auch nicht um den Einwand geschert, er würde so den Rhythmus einer erfolgreich spielenden Mannschaft zerstören. Aber im Nachhinein muss er sich diesen Vorwurf doch gefallen lassen.

England war zwar zunächst die bessere Mannschaft, aber überzeugen konnte sie auch nicht. Eine gute Gelegenheit hatten sie, als nach einer Viertelstunde Kieran Trippier eine Flanke schlug und sich Kolumbiens Torwart David Ospina etwas verschätzte. Angreifer Harry Kane stand am langen Pfosten und köpfelte, aber etwas zu hoch. Ansonsten deutete sich eine Art von Torgefahr nur bei drei Freistößen an.

Die Kolumbianer standen defensiv zwar ganz gut, wenngleich sie oft zu Fouls greifen mussten, aber nach vorne ging ohne James nichts. In der Nachspielzeit schoss Juan Quintero mal zentral aufs Tor, das war es aber auch schon.

Eine knappe Viertelstunde nach der Pause gab es dann einen bemerkenswerten Eckball. Vier Engländer stellten sich in der Strafraummitte hintereinander auf, als warteten sie am Londoner Trafalgar Square auf den Doppeldecker-Bus, aber Carlos Sánchez wollte sich partout dazwischendrängen. Dann kam die Ecke, und Sanchez packte sich Kane und schob und zerrte ihn und drückte ihn so gen Boden, als ob er sich noch auf ihn draufsetzen wollte, um mit ihm wie im Kindergarten Hoppe-Hoppe-Reiter zu spielen. Der Schiedsrichter Mark Geiger gab Elfmeter, Kane lief an und schoss in die Mitte - sein sechstes Turniertor und das 1:0.

Mina köpfelt in der Nachspielzeit noch den Ausgleich

Kurz danach hatte Dele Alli noch eine gute Gelegenheit zur Vorentscheidung, aber er vergab knapp. Und dann, nach 81 Minuten, erspielte sich Kolumbien durch Juan Cuadrado endlich die erste Torchance des Abends. Bei einem Konter zog er aus 14 Metern ab, doch er setzte den Ball knapp übers Tor. Dieser Moment wirkte wie das Signal zur Schlussoffensive, Falcao köpfte nochmal, Falcao schoss nochmal, und die Nachspielzeit brach bereits an, als Uribe gefährlich draufhielt. Dann gab es eine Ecke, Yerry Mina stieg am höchsten und mit einem tückischen Aufsetzer brachte er den Ball im Tor unter. Es war bereits der dritte Turniertreffer des Abwehrspielers - und angesichts der vorangegangenen zehn Minuten ein verdienter Ausgleich.

In der Verlängerung war Kolumbien zunächst die bessere Mannschaft, zwei drei aussichtsreiche Kopfbälle hatten sie, und einmal landete der Ball sogar in Englands Tor. Aber da hatte Schiedsrichter Geiger, der insgesamt eine schwache Leistung zeigte und trotz vieler gelber Karten die Partie kaum in den Griff bekam, schon abgepfiffen. Erst in der zweiten Hälfte der Verlängerung fand England wieder ins Spiel, Danny Rose und Eric Dier hatten noch Chancen. Und dann begann das Elfmeterschießen.

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