Fußball-WM:Die Nationalelf muss sich von Rassisten distanzieren

Die Schuldigen am deutschen WM-Aus? Özil und Gündoğan. So einfach machen es sich viele im Land. Was kommt als nächstes? "Türken raus"-Rufe auch in der Kreisklasse? Es bräuchte dringend ein starkes Zeichen.

Kommentar von Claudio Catuogno, Moskau

Dass Soziale Netzwerke und Kommentarspalten auch die Verlängerung des Stammtisches ins Digitale sind, ist nicht ganz neu. Aber so, wie derzeit im Netz über die Gründe für das Vorrundenaus der deutschen Elf bei der WM in Russland diskutiert wird, fehlt längst ein Wesensmerkmal vieler Stammtische: dass andere Argumente zumindest gehört werden. Eher sind diese Foren gerade Meinungsmüllkippen, auf die immer neuer toxischer Unrat abgepostet und abgetwittert wird. Und selbst, wenn da auch viele scharfsinnige Leute mitsurfen, die den Müll mit intelligenten Kommentaren als das entlarven, was er ist, nämlich Müll - sie haben keine Chance. Es kommt sekündlich so viel neuer Unrat, dass man mit Argumenten längst nicht mehr dagegen ankommt.

Gar nicht mal sehr verkürzt geht die Analyse des Vorrundenscheiterns auf diesen Plattformen oft so: Die zwei Türken sind schuld. Mit Türken gewinnst du halt nichts in einer deutschen Nationalmannschaft.

Ohne Mesut Özil und Ilkay Gündoğan wären wir jetzt noch auf Titelkurs? Schön, wenn man es sich so einfach machen kann und es tut trotzdem nicht weh.

Man fragt sich, wie die Leute das in dieser plumpen Undifferenziertheit ernst meinen können. Und man landet dann nicht nur bei den üblichen AfD-Führern, die es längst nicht mehr bei verquasten "Die-Leute-wollen-einen-Boateng-nicht-als-Nachbar"-Vergleichen belassen wie noch bei der EM 2016. Sondern die nun "AfD wirkt" twittern, wenn Özil gegen Schweden auf der Bank sitzt, oder "Ohne #Özil hätten wir gewonnen", kurz nachdem übrigens nicht ein, sondern elf deutsche Spieler an Südkorea gescheitert sind. Man landet aber auch beim sogenannten Comedian Oliver Pocher, der sich einerseits als Edelfan der Nationalelf ausgibt - aber andererseits eine Özil-Parodie veröffentlicht, deren Humorebene sich auf das Aufkleben von Glubschaugen beschränkt.

Man fragt sich, was jetzt eigentlich noch alles hineingerührt wird in die Analyse

Man landet bei eigentlich fachkundigen Fußballmedien, die Özil nach dem 0:2 gegen Südkorea mit der Note 6 aburteilen, weil das gerade der Stimmung im Land entspricht, obwohl alle Statistiken das Gegenteil ausweisen: Özil hatte in der Partie von allen deutschen Spielern die mit Abstand meisten gefährlichen Pässe gespielt und die meisten Torchancen vorbereitet, er hatte sogar überdurchschnittliche Werte bei seinen Defensivzweikämpfen.

Und man landet bei Meinungsmachern wie Claus Strunz, ehemals Chefredakteur der Bild am Sonntag, der im SAT1-Frühstücksfernsehen doch tatsächlich folgendes gesagt hat: "Vor vier Jahren gab es noch keine Flüchtlingskrise (...), vor vier Jahren war noch nicht dieses ungute Gefühl im Alltag (...), es war ein anderes Land. Und dieses Spiel ist ein Spiegelbild dafür, wie es in dem Land läuft, es läuft nämlich schlecht, wir machen es schlecht, und dann gewinnt man auch keine Spiele und man kommt in der Politik auch nicht zu sinnvollen Entscheidungen." Ergo: Jogi raus, Merkel raus, und weil es gerade en vogue ist noch dies: "Mesut Özil hat in dieser Weltmeisterschaft gedacht, die Tore stehen an der Breitseite. Er spielt immer nur quer statt nach vorne. Als wäre ein Dimmer drüber. Wie wenn man das Licht oder die Musik leiser macht."

Der neueste Spiegel-Titel: "Fußball. Politik. Wirtschaft. Es war einmal ein starkes Land".

Man fragt sich, was jetzt eigentlich noch alles hineingerührt wird in die Analyse, warum es den deutschen Weltmeistern in der Rückwärtsbewegung nicht gelungen ist, eine Überzahl des Gegners bei Kontern zu unterbinden, warum sie den Ball nicht in die Schnittstellen hineingebracht haben, und wenn doch, warum dann keiner dort hingelaufen war, und überhaupt warum der Bundestrainer seine Spieler diesmal nie auf die nötige Betriebstemperatur gebracht hat.

Warum schweigt Özil?

Dass die Affäre Özil/Gündoğan eine von vielen Belastungen war, die dieser WM-Mission ihre Leichtigkeit nahmen im Vergleich zu Brasilien 2014, ist dabei gar nicht mal strittig. Dass sie das auch beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) so sehen, haben sie bereits verkündet: Man werde jetzt, wenn alles auf den Tisch kommt, nicht nur erneut über die Erdoğan-Fotos an sich zu reden haben. Sondern auch darüber, warum insbesondere Mesut Özil das Thema durch sein Schweigen mit ins Turnier geschleppt hat. Ob und wie sehr die Mannschaft darüber ihr Zusammengehörigkeitsgefühl verlor, wird auch nachzuprüfen sein. Und nicht zuletzt, welche Motive es für das Schweigen gibt: von der Angst, dass im Fall einer öffentlichen Distanzierung die türkischen Medien über die beiden herfallen, bis hin zu geschäftlichen Beweggründen. Gündoğan ist, die Süddeutsche Zeitung berichtete darüber, in der Türkei an einem Bauprojekt beteiligt.

Anfangs, in den Testspielen vor dem Turnier, konnte man die Pfiffe gegen Özil und Gündoğan ja sogar noch für Ausdruck eines politischen Bewusstseins halten: Pfiffen da womöglich Leute auch für den Rechtsstaat? Und gegen die Unterdrückung Andersdenkender in der Türkei, die man ja ein Stück weit legitimiert mit einem Trikot für den Autokraten? Wenn es so gewesen sein sollte, dann ist auch dieser differenzierte Blick längst verstellt. Gekapert von jenem Teil des Publikums, der immer schon "Türken raus!" dachte, der es sich jetzt zu posten traut, und der es demnächst wahrscheinlich auch rufen wird. Vielleicht schon, und da wird es jetzt wirklich ernst, beim nächsten Heimspiel des örtlichen Dorfvereins in der Kreisklasse C.

Auf dem Spiel steht das Miteinander von Kickern mit und ohne Migrationshintergrund

Man weiß nicht, ob der DFB schon begriffen hat, was gerade auf dem Spiel steht. Es mag eine gewaltige Herausforderung sein, jetzt - mit altem oder neuem Bundestrainer - wieder eine titeltaugliche Mannschaft zu formen. Aber dieses sportfachliche Ziel verblasst fast gegen die viel größere Herausforderung. Auf dem Spiel steht alles, was dem Lieblingssport der Deutschen seine gesellschaftliche Bedeutung verleiht: das Miteinander von Kickern mit und ohne Migrationshintergrund auf den Bezirkssportanlagen und Ascheplätzen des Landes.

Wenn nun aber die Herausforderung so gewaltig ist - müsste man dann nicht auch bei den Maßnahmen etwas größer und radikaler denken als bisher?

Mal angenommen, es würden jetzt drei Nationalspieler eine Videobotschaft an die Fans aufnehmen, Zeit genug müssten sie ja haben, der Urlaub war erst in zweieinhalb Wochen geplant. Sagen wir: Manuel Neuer, Mats Hummels und Jonas Hector, jene drei, die noch mit den wenigsten Schrammen aus dem Turnier gekommen sind. Und mal angenommen sie würden zum Beispiel folgendes sagen:

"Liebe Fans der Nationalmannschaft,

die WM ist für Deutschland vorbei. Wir wissen, ihr seid wahnsinnig enttäuscht. Wir sind mindestens so enttäuscht wie ihr. Wir haben dieses Mal alle zu viele Fehler gemacht. Auf dem Platz, aber auch neben dem Platz. Das wissen wir, und diese Fehler werden wir jetzt analysieren und ansprechen. Auch das gilt ausdrücklich für uns alle. Eines wollen wir, im Namen des ganzen Teams, aber noch loswerden:

Es wird gerade von vielen Leuten versucht, einen Keil in unsere Mannschaft zu treiben. Es wird der Eindruck erweckt, als müssten bloß mehr "echte Deutsche" das Nationaltrikot tragen, dann kämen die Erfolge zurück. Als wäre es eine Last, dass in unserer Mannschaft Spieler zusammenkommen, deren Eltern aus verschiedenen Ländern und Kulturen stammen, die einen unterschiedlichen Glauben haben und im Privaten unterschiedliche Traditionen leben. Dabei ist das Gegenteil richtig. Genau das macht uns aus! Wir sind 2014 Weltmeister geworden, weil wir aus vielen verschiedenen Talenten, aus unterschiedlichen Biografien das Beste herausgeholt haben. Und wir werden auch in Zukunft nur dann wieder gemeinsam mit euch Erfolge feiern können, wenn wir uns nicht auseinanderdividieren lassen.

Also, unsere dringende Bitte: Glaubt nicht den Vereinfachern! Glaubt nicht den Rassisten! Wenn ihr weiter mit uns mitfiebern wollt, mit uns mitleiden wollt, mit uns mitjubeln wollt - bitte berücksichtigt, dass diese Mannschaft für Werte steht. Für Toleranz, Offenheit und Miteinander. Vielen Dank! Eure deutsche Nationalmannschaft."

Die Verbandsspitze müsste den Mut aufbringen

Mal angenommen, so etwas würde geschehen. Wäre es nicht ein viel kraftvolleres Signal, dass in dieser Mannschaft noch Leben und Problembewusstsein steckt, als jede Powerpoint-Analyse über Laufwege und Vertikalpässe, die Oliver Bierhoff jetzt gerade anfertigt?

Die Schweden haben rassistische Angriffe gegen ihren türkischstämmigen Spieler Jimmy Durmaz mit einer Aktion dieser Art beantwortet. Durmaz verlas eine Erklärung - und alle anderen versammelten sich hinter ihm und riefen "Fuck racism". Kurz danach haben sie 3:0 gegen Mexiko gewonnen. Bei den Schweden war es allerdings auch nur ein entscheidendes Foul (jenes vor Toni Kroos' Freistoß im Deutschlandspiel), das die rassistischen Beleidigungen und Morddrohungen gegen Durmaz provoziert hatte. Irre genug.

Bei den Deutschen liegen die Dinge wieder mal komplizierter.

Damit es so ein Signal geben könnte, müssten zwei Dinge zusammenkommen. Erstens müssten auch Mesut Özil und Ilkay Gündoğan die Aktion unterstützen. Gündoğan hatte sich schon kurz nach den Fotos ausdrücklich zu den Werten des Landes bekannt, dessen Trikot er trägt. Bei Özil, der sich mit öffentlichen Statements immer schon schwer tat, weiß man nicht, was er denkt. Am Freitag setzte er immerhin einen Tweet ab, darin die Botschaften: Wir waren nicht gut genug und #SayNoToRacism. Aber mindestens in die Gruppe hinein müsste auch er klarer vermitteln, dass er sich seines Teils der Verantwortung bewusst ist.

Und zweitens: Die Verbandsspitze müsste den nötigen Mut aufbringen. Das ist der schwierigste Teil. Der DFB-Präsident Reinhard Grindel legt großen Wert darauf, dass politische Äußerungen allein in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, die Spieler und Trainer sollen sich auf den Sport konzentrieren, und für alles andere gibt es ja seine Presseaussendungen und Stellungnahmen.

Aber über den Punkt, an dem man mit präsidialen Leitlinien noch Gehör findet, ist man offenbar hinaus. Um der Meinungsmüllkippe zuleibe zu rücken, braucht es die größte Baggerschaufel, die sie beim DFB haben. Die größte Baggerschaufel ist die Nationalmannschaft.

Sie müssten ja nicht gleich "Fuck racism" brüllen wie die Schweden. Aber etwas Ähnliches müssten sie jetzt dringend ganz laut hinausrufen ins Land. Sie müssten klar machen, dass sie das Deutschlandtrikot nicht im Namen derjenigen tragen, die es als rassistisches Symbol missbrauchen wollen.

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