Fußball-WM: Deutschland - England:Nur der Schiedsrichter sieht es nicht

Der Fußball ist von Medientechnologie umzingelt, trotzdem lässt die Fifa immer noch Irrtümer wie den nicht gegebenen Treffer von Frank Lampard zu. Die englischen Buchmacher bezahlen trotzdem.

Claudio Catuogno

Vielleicht hat der Rücktritt von Horst Köhler jetzt doch noch etwas Gutes, denn wo kein Bundespräsident ist, kann auch kein Bundespräsident mit einer Einschätzung so daneben liegen wie Heinrich Lübke 1966. "Der Ball war drin", behauptete Lübke seinerzeit kühn, was der Völkerverständigung möglicherweise zuträglich war, aber nicht ganz zutreffend jenes Ereignis beschrieb, das in Deutschland als "Wembley-Tor" in die Geschichte einging und in England schlicht "the third goal" genannt wurde, das dritte Tor. Das 3:2 in der 101. Minute des Londoner WM-Finales am 30. Juli 1966 (Endstand: 4:2) - Geoff Hursts Lattenknaller über Hans Tilkowski hinweg. Das Tor, das kein Tor war, das aber zu einem Mythos wurde. Und zum Forschungsobjekt für Generationen.

Fußball-WM: Deutschland - England: Eindeutig hinter der Linie: Frank Lampards Schuss wäre das 2:2 für England gewesen. Manuel Neuer fing den Ball erst, nachdem er wieder aus dem Tor herausgesprungen war.

Eindeutig hinter der Linie: Frank Lampards Schuss wäre das 2:2 für England gewesen. Manuel Neuer fing den Ball erst, nachdem er wieder aus dem Tor herausgesprungen war.

(Foto: ap)

Diesmal allerdings braucht es nicht erst eine Versuchsanordnung durch Ingenieure der Universität Oxford, um jener Szene auf den Grund zu gehen, die in Deutschland wohl als "Wembley II" in die Geschichte eingehen wird, und die in England ab sofort schlicht die größte Frechheit der Fußballgeschichte genannt werden dürfte. Man muss in den nächsten Tagen, Wochen, Jahren auch keine Privatfotos von Stadionbesuchern nach Indizien absuchen (Kalkwolke vom Auftreffen des Balles auf der Linie?).

Diesmal würde kein Bundespräsident irren, diesmal hat es die ganze Welt gesehen, entweder in Echtzeit oder spätestens bei der ersten Zeitlupe: Es war ein Tor. Aber es wurde nicht gegeben. Der Ball war derart offensichtich hinter der Linie, dass englische Buchmacher den Spielern, die auf ein Tor der Engländer nach einem Lattentreffer gewettet hatten, den Betrag dennoch ausbezahlen.

Die 38. Minute also in Bloemfontein, die Engländer sind gerade mal eine Minute wach in diesem Spiel, nämlich seit dem Anschlusstreffer von Matthew Upson in der 37. Minute, und jetzt drängen sie schon wieder auf den deutschen Strafraum zu. Frank Lampard tritt gegen den Ball, 17 Meter vom deutschen Gehäuse entfernt, der Torwart Manuel Neuer steht ein bisschen weit vor seinem Kasten, der Ball senkt sich, ein Stadion hält den Atem an.

Der Ball klatscht an die Unterkante der Latte. Dann hinter die Linie. Dann wieder an die Latte. Dann Neuer in die Arme.

Und als das alles längst geschehen ist, als die Fernsehleute in ihren Regie-Kabinen schon die Wiederholungen vorbereiten, als die Engländer längst jubelnd die Arme hochreißen, japst hinten an der Außenlinie der Linienrichter Mauricio Espinosa herbei. Tor? Kein Tor? Er hat es gar nicht sehen können. Aber was entschuldigt das nun?

Unverzeihlicher Fehler

Vor 44 Jahren war die Fußballwelt noch schwarz-weiß, der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst hatte kein Headset auf den Ohren und auch kein Mikrofon vor den Mund gespannt, um den sowjetischen Linienrichter Tofiq Bahramow zu konsultieren (was in Ermangelung einer gemeinsamen Sprache auch wenig geholfen hätte). 2010 ist die Fußballwelt farbig und in HD, es gibt Technologien wie den Chip im Ball, die Hintertorkamera ist entwickelt, und es gibt sogar so moderne Erfindungen wie den menschlichen Torrichter, den der Europa-Verband Uefa diese Saison in seiner Europa League getestet hat.

Germany's goalkeeper Manuel Neuer watches as the ball crosses the line during the 2010 World Cup second round soccer match against England at Free State stadium in Bloemfontein

Eindeutig hinter der Linie: Frank Lampards Schuss wäre das 2:2 für England gewesen.

(Foto: rtr)

Und das ist jetzt vermutlich der größte Unterschied zum Rätsel von 1966: Besser, als durch so einen nicht gegeben Treffer für die Engländer, kann der Weltfußballverband Fifa ja gar nicht illustrieren, dass er seine Schiedsrichter künstlich dumm hält, wie man sich das heute in keiner anderen Sportart mehr erlauben könnte. So dauerte es auch nicht lange, bis eine ewige Debatte neu losbrach.

Einen "unverzeihlichen Fehler" nannte der ehemalige Fifa-Schiedsrichter Hellmut Krug die Szene in der ARD. DFB-Präsident Theo Zwanziger konnte auch nur mit den Achseln zucken und darauf hinweisen, man müsse sich "an die Regeln halten, die gelten". Und es gilt nun mal der Verzicht auf jedes technische Hilfsmittel. Er könne aber "nachfühlen, dass den Engländern das nicht gefallen hat", sagte Zwanziger. Er selbst hatte sogar "von der Tribüne aus gesehen, dass der Ball im Tor war".

Die Engländer nahmen es nicht so locker, Wayne Rooney beschimpfte den Schiedsrichter schon in der Pause. Wembley 1966 - das war die Geburtsstunde eines Mythos. 2010 - das war einfach eine peinliche, für die Deutschen aber möglicherweise spielentscheidende Fehlentscheidung.

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