Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM: Deutsche Elf:Der Urknall von Rotterdam

Stefan Kießling, Holger Badstuber, Thomas Müller, Mario Gomez, Dennis Aogo, Toni Kroos: Viele Profis des jungen Löw-Kaders entstammen den Reformen des Jahres 2000.

Christof Kneer, Centurion

Alle, die damals dabei waren, können sich noch an Horst Hrubeschs Gesicht erinnern, er hatte Tränen in den Augen. Der Mann an seiner Seite weinte nicht, er sah umwerfend aus wie immer, aber wer genau hinsah, erkannte doch ein fassungsloses Grau, das sich langsam unter der Gesichtsbräune hervor arbeitete. Erich Ribbeck wusste, was dieser Abend bedeutete: dass er nicht länger Teamchef der deutschen Nationalelf sein konnte. Am nächsten Tag erklärte er seinen Rücktritt und nahm einen Flieger nach Teneriffa, wo er die unterbrochene Arbeit an Golf-Handicap und Gesichtsbräune wieder aufnahm. Zehn Jahre ist das jetzt her, es war der 20. Juni 2000, als der deutsche Fußball kollabierte.

Am selben Tag wurde jene deutsche Nationalmannschaft geboren, die zehn Jahre später, bei der WM in Südafrika, dem Land Freude bereiten sollte.

Man kann ruhig behaupten, dass Joachim Löws Mannschaft gerade Geburtstag hat. Sie wird zehn. Löw war bei der Geburt nicht dabei, er hatte damals eigene Sorgen. Ihm ging es damals nicht viel besser als Ribbeck oder Hrubesch, er war damals gerade beim Zweitligsten Karlsruher SC entlassen worden. Er erlebte nur aus der Distanz mit, wie der Deutsche Fußball-Bund das Totalversagen seiner Nationalelf bei der EM 2000 endlich als Chance begriff.

Viel zu lange war die Sportart unter der Ägide des Bundestrainers und selbsternannten Jugendpflegers Hans-Hubert Vogts vor sich hin verwaltet worden, aber dieser Abend von Rotterdam, das 0:3 gegen Portugals B-Elf, war zu erschütternd, um ihn ignorieren zu können. In diesen Tagen beschloss der DFB umfangreiche Aufbaumaßnahmen, die sofort in eine Schmalspurreform und zwei Jahre später in eine Revolution mündeten. Die Revolution war die, dass dem DFB plötzlich einfiel, dass es vielleicht ganz nützlich sein könnte, auch über ein paar junge Spieler zu verfügen. Der Verband hatte begriffen, dass man nicht auf ewig Lothar Matthäus als Libero wiederbeleben kann - wie bei der EM 2000, als er sich, 39-jährig, weit hinter seinen Innenverteidigern postierte, die damals noch Manndecker und ansonsten Nowotny und Linke hießen.

Matthias Sammer findet, dass es recht schnell gegangen ist mit dem Aufbau einer jungen, aussichtsreichen A-Nationalelf. Seit 2006 amtiert Sammer als Sportdirektor beim DFB, er ist ein fleißiger Mann, er kennt alle Vergleichszahlen. Er weiß, dass ein ähnliches Aufbauprogramm im Handball fast 15 Jahre dauerte. Sammer ist heute der Herr über das DFB-Talentförderprogramm, jene 366 Stützpunkte, in denen seit dem Jahr 2002 Talente im Alter von zehn bis 14 Jahren ausgebildet werden.

Heute verfügt der DFB über ein geschlossenes System, das möglichst kein Talent vom Radar verlieren soll. Sammer kämpft gegen jene populäre These, wonach die besten deutschen Fußballer nie entdeckt wurden. 29 Koordinatoren und 1000 Honorartrainer sollen das Land flächendeckend scannen - und die Talente dann entweder in die DFB-Stützpunkte leiten oder direkt zum Bundesligisten ihres Vertrauens. Dies ist die zweite Säule, auf die der DFB sein Nachwuchsprogramm baut: In den - seit 2002 obligatorischen - Leistungszentren der Erst- und Zweitligisten werden die Spieler so ausgebildet, dass sie im Idealfall so werden wie Sami Khedira. Der ist 23, wirkt aber reif und reflektiert wie ein 28-Jähriger. "Ich habe alles, was ich kann, im VfB-Internat gelernt", sagt er.

Prämierter Nachwuchs

So kommt es, dass sich ein großer Teil von Löws Kader tatsächlich dem Urknall vom Juni 2000 verdankt. Stefan Kießling, Mario Gomez, Dennis Aogo und Toni Kroos, damals 16, 15, 13 bzw. zehn Jahre alt, sind Kinder der allerersten Stunde, sie wurden für jenes frühe Stützpunktsystem entdeckt, das schon 2000 installiert wurde und zwei Jahre später von der heutigen, professionelleren Form abgelöst wurde.

Andere Jünglinge aus Löws Kader sind im Knabenalter direkt in die Leistungszentren der nächstgelegenen Bundesligisten gewechselt, Müller und Badstuber zum FC Bayern, Boateng zu Hertha BSC, Marin zu Eintracht Frankfurt, Özil zu Schalke 04, Khedira und Tasci nach Stuttgart.

Unter der straffen Führung von Matthias Sammer ist der DFB nun sogar zum preisgekrönten Verband geworden: 2009 wurde er von der Uefa für jene Nachwuchsarbeit prämiert, die in drei EM-Titeln (U17, U19, U21) ihren Ausdruck fand. Titel, die auch ein Trost waren für den traurigen Mann von damals: Die U19 und die U21 triumphierten mit dem Trainer Horst Hrubesch.

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SZ vom 02.07.2010/jüsc
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