Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Der brasilianische Weltuntergang fällt aus

  • Obwohl für die brasilianische Nationalmannschaft schon im Viertelfinale Schluss ist, nimmt es das Land erstaunlich souverän hin.
  • Dabei mag helfen, dass die Niederlage ein ganz normales 1:2 war - und kein 1:7 wie damals gegen Deutschland.
  • Zu den Ergebnissen der Fußball-WM in Russland geht es hier.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Deutlich früher als geplant ist die brasilianische Seleção am Sonntagmorgen am Flughafen Galeão von Rio gelandet. Jenes kleine Grüppchen jedenfalls, das sich überhaupt zur Heimreise entschlossen hatte. Am Gepäckband wurden neben Trainer Tite und seinem Stab die Spieler Casemiro, Douglas Costa, Gabriel Jesus, Geromel, Philippe Coutinho und Taison gesichtet, der Rest blieb in Europa, wo in Kürze schon wieder die Saisonvorbereitung beginnt.

Irgendwo in dieser Maschine, die mit ihren traurigen Passagieren im russischen Kasan abhob, soll sich laut Medienberichten auch Neymar befunden haben. Entweder kennt er einen geheimen Hinterausgang an diesem Flughafen oder er sitzt noch auf dem Rollfeld und pflegt seinen Instagram-Account. Es hätte seine WM werden sollen, sein Aufstieg zum anerkannt besten Spieler der Welt. In Erinnerung wird nun vor allem die Show eines Fallsüchtigen bleiben - und vielleicht noch jenes melancholische und durchaus bezeichnend individualistische Fazit, das Neymar in sein Telefon tippte: "Der traurigste Moment meiner Karriere."

Vielleicht hätte es ihn schon ein bisschen getröstet, wenn er gemeinsam mit seinen sechs Mitspielern den Terminal 2 von Rio verlassen hätte. Dort wartete im Morgengrauen nämlich eine erstaunlich große Gruppe von brasilianischen Frühaufstehern - Fans, die den geschlagenen Heimkehrern Applaus spendeten. Es wurden Fotos geschossen und Autogramme geschrieben. Der sichtlich ergriffene Trainer Tite sagte: "Danke! Es macht mich stolz, dass wir etwas Positives bewirkt haben."

So unerwartet, wie dieses 1:2 gegen Belgien die brasilianischen Titelträume beendete, so außergewöhnlich war dieses Empfangskomitee. Bislang galt im Land des Rekordweltmeister die eiserne Regel: Wer ohne Pokal nach Hause kommt, ist ein Versager. Und nach einem vorzeitigen Aus, zumal im Viertelfinale, haben Köpfe zu rollen. So war es immer, zuletzt als 2010 eine Maschine aus Südafrika am Flughafen Galeão landete. Damals, nach einer Viertelfinal-Niederlage gegen die Niederlande, wurden die Heimkehrer übel beschimpft und Trainer Dunga war praktisch schon entlassen, bevor am Gepäckband sein Koffer um die Ecke bog. Diesmal ist alles anders, und das hat wohl zwei Gründe: der Gesamteindruck, den die Mannschaft in Russland hinterließ, und die traumatische Erinnerung an die Heim-WM 2014.

Die Seleção ist ausgeschieden, aber sie hat sich nicht blamiert

Diesmal war es eben kein 1:7, sondern ein 1:2, ein ganz normales Fußballergebnis. Brasilien hat 2018 nicht gegen sich selbst verloren, sondern gegen einen ziemlich guten Gegner. Das kann mal vorkommen - hört man jetzt allenthalben. Es ist, als ob jene sieben deutschen Treffer, die sich für immer ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, diesmal den Schmerz betäubten. Die Seleção ist ausgeschieden, aber sie hat sich nicht blamiert. Sie ist auf die Füße gefallen. Oder wie der ehemalige Topstürmer und heutige TV-Guru Ronaldo unmittelbar nach dem Schlusspfiff in Kasan bekanntgab: "Er war kein Desaster." Aus seinen Worten klang neben aller Enttäuschung auch Erleichterung heraus. Den gefühlten Weltuntergang hat diese stolze Fußballnation bereits hinter sich und das hilft ihr er jetzt offenbar, um die jüngste Niederlage mit bislang unbekannter Souveränität aufzuarbeiten.

Fast schon schwärmerisch klang das Turnierfazit bei Brasiliens meinungsführendem Fernseh- und Zeitungsimperium Globo. Dort war allenthalben von einer "großen Chance" die Rede. Von der Chance, jetzt nicht alles in die Tonne zu treten. So wie sonst üblich: "Es war eine Niederlage, die bestätigt, dass Brasilien auf dem richtigen Weg ist", stand da Schwarz auf Weiß. Und damit war auch die Kampagne eröffnet, der sich bald alle führenden Fußballexperten des Landes anschlossen: Tite muss weitermachen!

Tatsächlich bot der designierte Verbandspräsident Rogerio Caboclo, der die in jeder Hinsicht chaotische CBF im kommenden April offiziell übernehmen wird, dem Coach noch am Wochenende eine Vertragsverlängerung bis zur WM 2022 in Katar an. Tite, 57, hat sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten, dem Vernehmen nach tendiert er aber dazu, seine Arbeit fortzusetzen. Es wäre eine kleine Revolution in einem Verband, in dem das Wort "Kontinuität" bislang praktisch nicht existierte. Der einzige Trainer, der die Seleção bislang bei zwei WM-Turnieren in Serie betreuen und auch dazwischen ununterbrochen weiterarbeiten durfte, war Mario Zagallo (1970 und 1974). Zagallo aber hatte mit der anerkannt besten brasilianischen Elf der Geschichte den WM-Titel 1970 gewonnen.

Was Tite nun vorzuweisen hat? Den allgemeinen Eindruck, den der Mittelfeldspieler Casemiro nach der Landung in Rio so beschrieb: "Das war nicht das Ende einer Ära." Eher sieht es so aus, als brauche die neue Ära noch eine bisschen Zeit, um sich zu entfalten. Als Tite vor zwei Jahren seine Arbeit aufnahm, hat er etwas begonnen, was eindeutig als Projekt erkennbar ist. Unter seiner Regie hat Brasilien seither 20 von 26 Partien gewonnen und im Viertelfinale gegen Belgien erstmals zwei Tore in 90 Minuten kassiert.

Niemand beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien

Das Team besitzt jetzt wieder eine Spielidee, die auch bei der Niederlage von Kasan unübersehbar war. Insgesamt 26 Torschüsse gaben die Brasilianer auf das Tor von Keeper Thibaut Courtois ab, der auch den letzten Schuss von Neymar auf wundersame Weise parierte. In der zweiten Halbzeit rannte diese Mannschaft einem Zwei-Tore-Rückstand hinterher, ohne konzeptlos zu wirken. Von der gefürchteten belgischen Konterkunst war nach der Pause nichts mehr zu sehen. O Globo kürte diese 45 Minuten gar zur besten Halbzeit, die ein Team bei dieser WM gespielt habe.

Auffällig ist auch, dass sich offenbar niemand mit den sonst so beliebten Verschwörungstheorien beschäftigen will. Dabei gab es ja durchaus eine schwer elfmeterverdächtige Situation, in der der Videoschiedsrichter seinen Dienst versagte. Tite wollte in seiner Analyse aber weder Pech noch ausbleibende Schiedsrichterpfiffe als Ausrede gelten lassen. Er sagte nur: "Vielleicht hat es uns noch ein bisschen an Kompetenz gefehlt." Auch das sind ganz neue Töne in diesem Fußballland, das nie wirklich gelernt hat in Würde zu verlieren.

Bei einer aufrichtigen Fehleranalyse wird es nun auch um die Frage gehen müssen, ob Brasilien ein treffsicherer Mittelstürmer fehlt. Gabriel Jesus, der dafür eigentlich zuständig war, reiste torlos aus Russland ab. Und Tite hat mit seiner konservativen Auswechselpolitik (etwa im Fall Jesus) zweifellos auch eigene Fehler begangen. Gleichwohl sind sich fast alle Experten einig, dass sich solche Details mit einem lernwilligen Coach und einem insgesamt jungen Kader bis 2022 beheben lassen. Wobei es zum Erhalt dieser Stimmungslage sicherlich nicht schaden kann, wenn die Seleção auf dem Weg nach Kater noch mindestens einen Titel gewinnt: in genau einem Jahr, zum Beispiel, bei der Copa América in Brasilien.

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Quelle:
SZ vom 09.07.2018/vit
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